Wissenstransfer

Hochschulen und ihre Verantwortung für die Gesellschaft

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Die humboldtschen Bildungsideale haben das deutsche Bildungssystem geprägt. (Foto: [jaime.silva](https://www.flickr.com/photos/20792787@N00/) [Berlin - Humboldt Universität](https://www.flickr.com/photos/20792787@N00/5017400532/) [CC BY-NC-ND 2.0](https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/)
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Was ist eine Hochschule wert? Das wird auch 2021 noch vorrangig daran gemessen, wie leistungsfähig und exzellent ihre Forschung ist. Wissenstransfer – das sind die Innovationen, die hohe Summen an Drittmitteln einbringen, aus denen Patente entstehen und Gründungen gelingen, über die Magazine und Wissenssendungen gerne berichten. 

Doch dieses recht verstaubte Transferverständnis bröckelt. Spitzentechnologie und kommerzielle Aspekte sind selbstverständlich fast überall wichtige Ziele von Hochschulen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen denken aber zunehmend darüber nach, wie ihre Arbeit das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben verbessern kann. Sie fragen sich nicht erst seit der Coronakrise: Wer könnte in der Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder im Alltag mit meiner Forschungsleistung bessere Entscheidungen treffen? 

Damit rückt der gesellschaftliche Wissenstransfer in seiner ganzen Breite mehr in den Fokus, der mit Patenten oder Lizenzen zunächst nichts zu tun hat, aber spürbare Impulse für Forschung und Lehre bringt. Doch diese Art von Transfer hat es in sich, denn der Austausch mit der Gesellschaft erfordert Zeit und macht Mühe. Gleichzeitig fehlt es an Wertschätzung und Finanzmitteln, weil bislang kaum jemand wahrgenommen hat, wie aufreibend, aber auch wertvoll diese Transferarbeit sein kann. Sie bewegt etwas. Ihre Leistung lässt sich aber nur schwer erfassen: Ein gemeinwohlorientiertes Studienprojekt bei der Caritas oder aber eine Politikberatung im Gemeinderat zur ländlichen Mobilität – wie will man da Erfolg messen? 

Noch verhindert das Nicht-bemessen-Können, dass mehr Menschen und auch die Medien realisieren, was in den Hochschulen für die Gesellschaft geleistet wird. Der Stifterverband möchte das ändern und für Transparenz sorgen. Er entwickelt gemeinsam mit der Helmholtz-Gemeinschaft Kriterien, mit denen die ganze Bandbreite an Transferaktivitäten systematisch erfasst und bewertet werden kann, das sogenannte Transferbarometer (siehe Kasten). Gefördert wird das Vorhaben von der Stiftung Mercator.

Fünf Hochschulen und sechs Helmholtz-Zentren mit unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkten und Transferprofilen sind am Prozess beteiligt. Sie sollen die Indikatorik nicht nur mitgestalten und erproben, wie Andrea Frank vom Stifterverband erklärt: „Wir wollen, dass sie über diese Indikatoren auch ihre Profile sichtbar machen können.“ Denn sie zeigen laut Frank auch, wie Hochschulen und Forschungszentren die Gesellschaft prägen.

Programm-Label „Transferbarometer“
Label: Stifterverband
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Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind zunehmend gefordert, ihre Transferleistungen und Kooperationsbeziehungen systematisch zu erfassen und darzustellen. Hierzu bedarf es geeigneter quantitativer und qualitativer Indikatoren für unterschiedliche Transferprofile. Dieser Bedarf wird im Rahmen des Transferbarometers aufgegriffen und gemeinsam mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen bearbeitet. 

Kontroverse um die „Kümmerer-Universität“

Wo Akteure ein sogenanntes weiches Transferverständnis ausloten, das sich auf den Sozialbereich bezieht, wird nicht selten darum gerungen, wie weit sich die Organisation als Ganzes vorwagen sollte. So löste beispielsweise die öffentliche Bezeichnung „Kümmerer-Universität“ 2011 auf dem Campus der Universität Duisburg-Essen eine Kontroverse aus. Einige sagten, das sei wahr und gut so. Andere meinten, davon müsse man weg, weil die Universität ansonsten nicht mehr ernst genommen werde – allen starken traditionellen Industriekooperationen zum Trotz. 

Das Kümmern bezog sich auf Transferaktivitäten im Bereich Bildungsaufstieg, die die Universität Duisburg-Essen gemeinsam mit Partnern aus der Zivilgesellschaft gestaltet: aus Schulen, Vereinen, Kindergärten, Politik, Behörden, der Wirtschaft. Über die Jahre ist ein multilaterales Kooperationsnetzwerk entstanden, das wirksame Pfade für den Bildungsaufstieg benachteiligter Talente entwickelt: Es gibt keine andere deutsche Universität, die so viele Erstgenerationsstudierende und Geflüchtete unter ihren Absolventinnen und Absolventen hat wie Duisburg-Essen. 

Prorektorin Barbara Buchenau ist dort für „Transfer und Kooperation“ verantwortlich und erlaubt einen Blick hinter die Kulissen: „Exzellenz hier und Bildungsgerechtigkeit da – das beißt sich.“ Deshalb komme die Universität bei dieser Transferleistung permanent mit sich selbst in Konflikt. Das erfordere zwar viel Zeit und Kraft, berichtet die Professorin weiter. Dieser Wissensaustausch sei essenziell, gerade weil er im Ruhrpott so sehr gebraucht werde.  

Der Erfolg gibt letztlich allen Anstrengungen recht. Deshalb sollten sich auch eigentlich alle Universitäten dieser gesellschaftlichen Transferaufgabe stellen, sagt Barbara Buchenau. Sie wünscht sich eine Blaupause dafür, wie Bildungsgerechtigkeit von vornherein mitgedacht und damit ein integraler Bestandteil von exzellenter Forschung werden kann. 

Gläserne Deponie als Freizeitmagnet

Aktuell klafft eine Lücke zwischen dem, was die Gesellschaft an Wissenstransfer, Verantwortung und Gestaltungskraft von Hochschulen erwartet, und dem, was diese diesbezüglich leisten können. So wird kritisiert, dass wichtige Erkenntnisse und Daten viel zu selten Politik oder Bevölkerung erreichen. Man publiziere zwar über neue erneuerbare Technologien in internationalen Wissenschaftsmagazinen, lasse aber Verantwortliche in der Kommune vor der Haustür mit Entscheidungen, welche Technologien bei der regionalen Energiewende definitiv helfen würden, allein.

Luftbild des Forschungsstandortes :metabolon in Lindlar-Remshagen
Luftbild des Forschungsstandortes :metabolon
Luftbild des Forschungsstandortes :metabolon (Foto: Bergischer Abfallwirtschaftsverband)
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Klaus Becker bezeichnet diese Lücke als „riesig“. Er beobachtet seit Jahrzehnten, welche Transferwege die Hochschulen für angewandte Wissenschaften einschlagen und erinnert sich noch gut: Der Technologietransfer Richtung Gesellschaft habe erst vor fünf, sechs Jahren an Fahrt aufgenommen. Ein Feld, in dem neben bilateralen Kooperationen immer öfter auch multilaterale Kooperationen entstehen. 

Becker ist Professor und Vizepräsident für den Bereich Forschung und Wissenstransfer an der Technischen Hochschule Köln und begleitet ein solches Netzwerk: das Forschungs- und Innovationszentrum :metabolon in Lindlar-Remshagen. Entstanden ist eine „gläserne Deponie“, die Forschende, Studierende, der regionale Abfallwirtschaftsverband, Kommunen, Bildungseinrichtungen und die Bürgerschaft gemeinsam entwickelt haben. Vorher war diese Deponie eher eine Art Störenfried der Region. Jetzt verbringen sie auf dem renaturierten Berg ihre Freizeit, während auf demselben Gelände, sozusagen nur ein paar Meter entfernt, Spitzenforschung zur Stoffumwandlung und für Umwelttechnologien betrieben wird. Neugierige sind hier, wo sie beispielsweise erfahren, wie aus Klärschlämmen effektive Brennstoffe entstehen, willkommen. :metabolon verknüpft ganz bewusst regionale Entwicklung, Freizeitspaß und Forschung mit Umweltbildung. Für Klaus Becker ist dieses Projekt gesellschaftlicher Wissenstransfer par excellence. 

Bislang sind solche großen Projekte die Ausnahme. Auch das Potenzial, das gerade in multilateralen Netzwerken quer durch die Gesellschaft stecken kann, wird vielerorts noch übersehen. Das Beispiel Duisburg-Essen zeigt eindrücklich, was ein systematisch über viele Ebenen und Schnittstellen hinweg geplanter Wissenstransfer bewegen kann: einen erfolgreichen Bildungsaufstieg bis zum Masterabschluss. Und das ist weit mehr als die Summe einzelner Bildungsangebote hier und da.

„Viele der deutschen Hochschulen verstehen Transfer noch nicht als ein strategisches Potenzial, ein Merkmal, über das man sich auch sehr gut nach außen positionieren könnte“, sagt Stifterverbands-Experte Cornels Lehmann-Brauns. Er beobachtet: Selbst wenn das Interesse schon da ist, werden diese Potenziale vielerorts noch nicht ausgeschöpft. 

Aktuell gibt es den Wunsch nach Orientierung, wie man diese Art von Transfer als Institution anpacken sollte. Selbst Hochschulen, die Ziele, ein Leitbild oder eine Strategie für den gesellschaftlichen Transfer definiert haben, stecken oftmals noch in der Orientierungsphase. Dutzende nutzten in den vergangenen Jahren das Transfer-Audit des Stifterverbandes, um sich über eigene Transferstärken klarer zu werden und um vom Erfahrungswissen Anderer zu lernen.

„Viele der deutschen Hochschulen verstehen Transfer noch nicht als ein strategisches Potenzial, ein Merkmal, über das man sich auch sehr gut nach außen positionieren könnte.”

Cornels Lehmann-Brauns
Cornels Lehmann-Brauns (Foto: Stifterverband/ Gorczany)
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Cornels Lehmann-Brauns
Programm-Manager im Stifterverband

Eberswalde: Kleiner Hochschulstandort mit Strahlkraft

Das wirkliche Potenzial – in Eberswalde strahlt es schon. Sogar ziemlich weit, denn die dortige Hochschule für nachhaltige Entwicklung ist wegen ihres im Herbst 2020 gestarteten englischsprachigen Masterstudiengangs „Biosphärenreservat-Management“ international bekannt. Ein vergleichbares Angebot gibt es weltweit nur noch an der Universität in Toulouse, allerdings in Französisch. Nun wollen junge Menschen aus allen Teilen der Welt plötzlich in der kleinen Stadt am Rande Brandenburgs studieren. 

Die Energie und Kreativität dieser Studierenden kommt jetzt geballt den deutschen Biosphärenreservaten zugute. Denn Forschungsfragen für diesen Studiengang entwickeln die Studierenden zum Beispiel in den Schutzgebieten „Schorfheide-Chorin“ und „Flusslandschaft Elbe-Brandenburg“ im engen Austausch mit Forstleuten, Landwirten, regionalen Unternehmen, Gemeinden und Bewohnern. So formt das Wissen aus Forschung und Lehre die Realität, umgekehrt prägen aber auch die realen Herausforderungen Forschungsziele und Curricula. 

Es ist nicht das einzig Außergewöhnliche, das der Hochschulleitung in Eberswalde gelungen ist. Nahezu alle Professorinnen und Professoren übertragen mittlerweile ihr Wissen in die Gesellschaft. „Normalerweise sind es an einer Hochschule so um die 10 oder 20 Prozent, die sich engagieren“, berichtet dort Alexander Pfriem, Vizepräsident für Forschung und Transfer. Die Bandbreite ist groß und reicht von Ideen für eine nachhaltige Hospizarbeit über ein effektives Einsetzen von Zugpferden in geschützten Wäldern bis hin zur YouTube-Seifenoper „Der Hochschulrainiger“, die nachhaltige Themen so humorvoll vermittelt, dass der Stifterverband die Videoreihe 2020 mit seiner Hochschulperle auszeichnete

 

Alexander Pfriem glaubt, dass das klare Bekenntnis der Hochschule, sich für Nachhaltigkeit in der Region, in der Gesellschaft, im Naturschutz und in der Ökonomie einzusetzen, diesen Schub ausgelöst hat. „Wir haben die Transferaktivitäten so ganz klar im Vergleich zu den klassischen Forschungsnetzwerken aufgewertet.“ Jetzt könnten sich alle einer gewissen Anerkennung für diese Arbeit innerhalb der Hochschule gewiss sein, erklärt Pfriem weiter. Auch nach außen hin klappe das Storytelling besser, weil sich griffige Projekterfolge in den Medien leicht erzählen lassen.

Wertschätzung ist ein erstaunlicher Motivator. In Eberswalde wächst nun der Erfahrungsschatz, wie und mit wem sich Wissensflüsse speziell zu Nachhaltigkeit, Ökologie, Klimawandel oder Naturschutz in der Praxis organisieren lassen, rasant. Diese Expertise ist sehr gefragt. Pfriem erzählt, dass sich Anfragen großer Forschungskonsortien oder -institute häuften. 

Alexander Pfriem
Alexander Pfriem (Foto: HNEE - Florian Reischauer)
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Eberswalder Transferexperte Alexander Pfriem

Letztlich sollten Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen begreifen: Transfer ist nicht zwingend eine „Zusatzaufgabe“, die auf einen ohnehin gefüllten Arbeitsalltag draufgepackt wird. Das zeigt auch ein Blick nach Kassel. Dort hat sich die Universität über Jahre hinweg Fachwissen für das sogenannte Service-Learning erarbeitet. Es verknüpft gesellschaftliches Engagement direkt mit universitärer Lehre, entsprechende Praxiseinsätze sind also im Curriculum einzelner Studiengänge verankert. Im Masterstudiengang Psychologie beispielsweise betreuen Studierende eine Corona-Krisenhotline; Lehramtsstudierende entwickelten Bildungsmaterialien für Schulen über den Kasseler Klimaschutzrat. Die Universität realisiert jährlich 30 bis 40 solcher gesellschaftlich engagierten Lehrprojekte im Raum Kassel. 

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Wie Kanzler Oliver Fromm berichtet, ist das erst der Anfang: „Generell kann man Wissenstransfer einfach laufen lassen oder aber man sagt: Wir als Universität wollen Gesellschaft mitgestalten.“ Auch das ist mehr als die Summe einzelner, lose gewählter Projekte. Laut Fromm werde die Universität einen gestaltungsorientierten Wissenstransfer umsetzen und diesen langfristig auf vier zentrale Herausforderungen der Region Kassel konzentrieren. Konkret geht es dabei um Resilienz in Natur und Gesellschaft, die Zukunft von Arbeit und Produktion im digitalen Zeitalter sowie die Zukunft von Stadt und ländlichem Raum und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hierfür werden bereits neue Formate vorbereitet, die Kooperationen zwischen Lehre, Forschung und Gesellschaft auf ein deutlich höheres Level heben sollen.

Es sind die Prozesse des Wissenstransfers, die noch fehlen oder nicht rund laufen. Das Transferbarometer ist deshalb ein wichtiges Orientierungsinstrument. Davon ist Jens Fahrenberg, Leiter des Innovations- und Relationsmanagements am KIT in Karlsruhe, überzeugt. Denn dieser Indikatoren-Baukasten, die fundamental durchdachten Prozessideen werden anderen helfen: „Das Barometer macht zunächst einmal bewusst, was überhaupt alles Transferleistungen sind, hilft dann aber auch konkret bei der Professionalisierung.“ Jede Hochschule, jede Wissenseinrichtung könne sich daran entlanghangeln und fragen: Wie ist man selbst in den beschriebenen Transferfeldern organisiert, wie läuft dort die Kommunikation ab und welche Prozesse könnten besser gestaltet werden? Denn nur wer das Bewusstsein habe, der könne sich auch professionalisieren, ist Jens Fahrenberg überzeugt: „Und dann auch herausfinden, ob die jetzige kleine Transfereinheit geeignet aufgestellt und ausgestattet ist.“

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