Wissenschaftskommunikation

Den Tauben ins Gehirn geschaut

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Onur Güntürkün (Foto: Christian Bohnenkamp)
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Die kleine Kiste auf der Fensterbank haben die Mitarbeiter von Onur Güntürkün gebaut und ihm zum Geburtstag geschenkt: Sie wollten ihn in die Versuchssituation seiner Tauben versetzen. In dem würfelförmigen Kasten in der Größe eines Schuhkartons steckt tatsächlich die Essenz der Forschung von Güntürkün. Zwei Bilder zeigt ein kleiner Bildschirm, eins rechts und eins links: Micky Maus und Kater Karlo, danach Obelix und einen römischen Legionär, jeweils zwei Comichelden. Wer vor der Kiste sitzt, muss auf eines der beiden Bilder drücken. Trifft er die richtige Entscheidung, kullert ein Schokostückchen aus einem eingebauten Schacht – eine Belohnung für den Probanden.

Was aber ist die richtige Entscheidung? Onur Güntürkün sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro und lächelt schelmisch. Das Prinzip liegt vielen seiner Experimente zugrunde: Was richtig und was falsch ist, was also eine Belohnung verspricht und was nicht, das müssen die Probanden durch Versuch und Irrtum selbst herausfinden. Bei dem Kasten, der die Besucher unterhalten soll, finden es früher oder später alle heraus: Die Schokolade gibt es immer dann, wenn man auf die „gute“ Figur drückt, also auf Micky Maus und nicht auf Kater Karlo, auf Obelix und nicht auf den Legionär. „Die hohe Kunst des Experimentators ist es“, sagt Onur Güntürkün, „komplexe Fragen so weit aufzulösen, dass man einzelne Bausteine isoliert betrachten kann.“ Die komplexen Fragen, mit denen er sich beschäftigt, hängen mit der Arbeitsweise des Gedächtnisses zusammen.

Dank seiner ausgeklügelten Experimente ist der Bochumer Biopsychologe während seiner Forschungskarriere weit vorgedrungen in die Geheimnisse des menschlichen Denkens. Mit seiner Gruppe belegt er fast zwei Etagen ganz oben in einem der Hochhäuser auf dem Campus der Bochumer Ruhr-Universität: Büros finden sich hier oben, jede Menge Labors – und Käfige. Jede Menge Tauben hält Güntürkün; sie sind quasi seine Mitarbeiter. Mit ihnen macht er Wissensexperimente, aus denen er Rückschlüsse auf das menschliche Gehirn ziehen kann. „Ich mag sie, weil sie so beamtisch arbeiten“, sagt er gern: Wenn sie eine Aufgabe bekommen, sitzen sie stoisch so lange daran, bis sie erledigt ist.

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Illustration: Lisa Syniawa
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Diese Forscher sind Stars. Denn sie arbeiten nicht nur in Labors, sitzen nicht nur in Bibliotheken. Stattdessen stehen sie als Medienprofis sehr oft auf den großen Bühnen des Landes. Sie können meisterhaft über Forschung reden, sie begeistern für das, was vielen Bürgern sonst nicht zugänglich wäre. Sie sind die besten Anwälte für die Sache der Wissenschaft.

Solche begnadeten Wissenschaftskommunikatoren als Vorbilder zu adeln und ihr außergewöhnliches Engagement zu belohnen, war im Jahr 2000 die Idee des Stifterverbandes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seitdem vergeben sie gemeinsam jährlich den „Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“. Der Stifterverband steuert das Preisgeld bei (50.000 Euro), die DFG sucht die Preisträger aus. Onur Güntürkün erhielt den Communicator-Preis im Jahr 2014. 

Der Kasten mit den Comicfiguren ist die Abwandlung einer klassischen Versuchsanordnung: Eine Taube sitzt vor einer Art Bildschirm, auf dem Punkte in unterschiedlichen Farben aufleuchten. Pickt die Taube mit dem Schnabel auf die grünen Punkte, bekommt sie eine Belohnung. Wie lange braucht sie, bis sie herausfindet, dass die Farbe Grün und die Belohnung zusammenhängen? Oder, zweites Beispiel: Die Taube sieht verschiedene Fotos und wenn sie eines auswählt, das einen Menschen zeigt, bekommt sie eine Belohnung. Wenn sie gelernt hat, auf Menschen zu reagieren, folgt der nächste Schritt: Dank Bildbearbeitung fehlt den Menschen auf diesen Fotos mal der Kopf, mal fehlen die Beine – erkennt die Taube sie noch? Und was sagt das über Kognition, über Gedächtnis, über Abstraktionsvermögen? Stück für Stück, so hofft Onur Güntürkün, lässt sich aus lauter solchen kleinen Erkenntnissen ein großes Bild vom Gehirn zusammensetzen.

„Ich mag Tauben, weil sie so beamtisch arbeiten.“

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Onur Güntürkün (Foto: CRUB/Marion Nelle)
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Onur Güntürkün

Genau das ist das Ziel, das Güntürkün schon seit seiner Kindheit umtreibt. Als er acht oder neun Jahre alt war, machte er zu Hause Experimente mit Rüsselkäfern, für die er in den Schachteln von Musikkassetten kleine Labyrinthe einrichtete. Bald darauf kaufte er sich ein erstes Mikroskop mit dem Taschengeld, das er sich bei seiner Mutter durch Geschirrspülen verdiente. Geboren worden ist Güntürkün in der Türkei, als Kind kam er mit seinen Eltern nach Deutschland, studierte in Bochum und wurde schließlich zum vielfach ausgezeichneten Hirnforscher. „Das Denken“, sagt er, „lässt sich aus zwei Richtungen erkunden: Zunächst ist da die abstrakte Ebene, die wir in der Psychologie betrachten – da geht es um die Grammatik und die Regelhaftigkeit des Denkens. Und dann gibt es die zweite, die biologische Ebene: Wie wird das Denken generiert, was genau passiert da auf neuronaler Ebene im Gehirn?“

Der Wandel der Psychologie

Beide Bereiche hängen so eng zusammen, dass Wissenschaftler nur dann die Geheimnisse des Denkens entschlüsseln können, wenn sie sie gemeinsam betrachten. Heute ist das unter den Hirnforschern weitgehend Konsens, aber das war nicht immer so: „Als ich während meines Studiums in Buchläden Fachbücher zur Psychologie gesucht habe, waren die häufig ganz hinten einsortiert neben Astrologie und Esoterik. Damals galt Psychologie in der Öffentlichkeit nicht immer als solide Wissenschaft. 

Das hat sich radikal geändert und die neurowissenschaftliche Öffnung der Psychologie hatte daran auch ihren Anteil.“ Inzwischen kann er über diese Geschichte lachen, aber damals gab sie ihm, dem jungen Studenten, schwer zu denken: „Ich hatte eine Phase in meinem Leben, in der ich dachte, dass die Antworten primär auf der biologischen Ebene zu finden sind. Also habe ich dort mein Heil gesucht, bin jahrelang richtig tief eingetaucht. Irgendwann bin ich bei den Synapsen angekommen, auf der kleinsten Ebene im Gehirn, und merkte, dass ich von dort aus den Weg zum Verständnis des Denkens niemals finden werde.“ In dem Moment stürzte er sich mit Begeisterung wieder auf die Kernkompetenz der Psychologie: die experimentelle Analyse mentaler Prozesse. 

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Foto: Christian Bohnenkamp
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In seiner Arbeitsgruppe in Bochum arbeiten heute Psychologen, Biologen, Mediziner, Informatiker und Ingenieure zusammen; einige machen Experimente mit Tauben oder Versuchspersonen, andere untersuchen einzelne Neuronen im Gehirn – und alle zusammen kümmern sich darum, die Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung miteinander zu verknüpfen. Und: Die Psychologie-Lehrbücher, sagt Onur Güntürkün zufrieden, stünden heute in den Büchereien ganz vorn als Teil der Naturwissenschaften. 

„Wir bauen hier einen Ort, an dem wir auf eine vollkommen neue Art und Weise experimentieren können. “

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Onur Güntürkün (Foto: CRUB/Marion Nelle)
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Onur Güntürkün

Die Vernetzung der Wissenschaftler soll künftig noch enger werden – in einem eigenen wissenschaftlichen Zentrum, das für Güntürkün die Erfüllung eines akademischen Lebenstraums ist. Er dreht sich an seinem Besprechungstisch um und zeigt auf das Modell eines imposanten Gebäudes, das er neben seinem Arbeitsplatz aufgebaut hat. „Think“ wird einmal in großen Lettern auf der Fassade stehen, wenn das Gebäude in einigen Jahren fertig sein wird – eine Abkürzung für „Zentrum für Theoretische und Integrative Neuro- und Kognitionswissenschaft“. „Wir bauen einen Ort, an dem wir auf eine vollkommen neue Art und Weise experimentieren können“, sagt Onur Güntürkün, dem mit diesem Gebäude ein Coup gelungen ist: Vor ihm hat es noch kein Psychologe in Deutschland geschafft, die Gelder für ein ähnliches Wissenschaftszentrum zusammenzubekommen. Auf 4.000 Quadratmetern sollen mehr als 100 Forscher zusammenarbeiten, die von der Zellbiologie über die Hightech-Bildgebung bis hin zur Philosophie des Geistes alle Disziplinen abdecken, die das menschliche Gehirn zum Gegenstand haben. Mit diesem Ansatz soll „Think“ einzigartig werden unter den Hirnforschungszentren; es könnte ein „vollkommen neues Arbeiten“ entstehen, wie es Güntürkün nennt.

Eins hat ihm sehr geholfen auf dem Weg vom hintersten Winkel der Unibibliothek zum eigenen Forschungszentrum, daran lässt Onur Güntürkün keinen Zweifel: seine Gabe zur Kommunikation. In öffentlichen Vorträgen erzählt er regelmäßig über die Gehirnforschung, er gibt Interviews und begeistert in seinen Seminaren immer neuen wissenschaftlichen Nachwuchs für dieses Gebiet, das zu den komplexesten Feldern in der Forschung gehört. „Ich hatte vorhin erst eine Vorlesung gegeben vor neuen Bachelorstudenten, morgen sind die Masterstudenten dran. Ungefähr eine Stunde erzähle ich dort, was ich mache, warum ich es mache und wie das Fach aussieht, das ich vertrete“, sagt Güntürkün. Ein paar Minuten vor der Vorlesung rollt er mit seinem Rollstuhl, auf den er seit seiner Kindheit angewiesen ist, zu den Aufzügen ganz oben im Hochhaus. In den paar Minuten, während er auf die Kabine wartet, die ihn hinunterbringt in den Hörsaal, legt er sich seine Gedanken noch mal zurecht, dann fährt er auf die Bühne und strahlt vom ersten Augenblick an den Enthusiasmus aus, den er für seine Forschung auch nach einigen Jahrzehnten noch verspürt: „Das sind die Momente, die ich wirklich sehr genieße!“

Über diese Serie

20 Jahre Communicator-Preis - Grund genug für MERTON, die bisherigen 20 Preisträger in einer besonderen Bild- und Artikelserie zu würdigen. Nicht nur der Fotograf Christian Bohnenkamp setzt die Protagonisten in stimmungsvolles Licht, auch der Autor Kilian Kirchgeßner bringt sie in seinen Texten zum Leuchten. Wer die ausdrucksstarke Bilder einmal aus der Nähe sehen will: Das Wissenschaftszentrum Bonn präsentiert die Werke voraussichtich im Sommer 2021 in einer kleinen Retrospektive. 

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