Stifterverband

Zwischen Wirtschaftsboom und Bildungskatastrophe

Foto: Stifterverband
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Moped, Ferienreise oder doch lieber ein gut gefülltes Sparbuch? Anfang der 1960er-Jahre standen 14-Jährige bei der Lehrstellensuche vor der Qual der Wahl. Unternehmen umgarnten die Volksschulabgänger mit Sonderleistungen in Zeitungsannoncen wie kleine Stars. Der Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik war leer gefegt, die Wirtschaft brummte. Lehrstellen gab es wie Sand am Meer, und jede dritte blieb unbesetzt. Gleichzeitig liebäugelten immer mehr Schüler auch mit einem höheren Bildungsabschluss

Seit der Jahrhundertwende war das dreigliedrige Schulwesen wie in Stein gemeißelt gewesen: Fast 90 Prozent aller Jugendlichen gingen bis Ende der 50er-Jahre mit dem Hauptschulabschluss ins Berufsleben. Damit war es jetzt vorbei, die Quote sank in den 1960er-Jahren auf 80 Prozent. 1970 gab es doppelt so viele Abgänger mit Realschulabschluss wie noch 1960, rund 860.000 an der Zahl. Etwa 1,4 Millionen verließen die Schule 1970 sogar mit dem Abitur in der Tasche, viele von ihnen strömten an die Hochschulen.

Neuordnung des Bildungssystems

Gleichzeitig brauchte die Wirtschaft weitaus höher qualifizierte Arbeitskräfte als bislang. Die Anforderungen an das Bildungssystem wuchsen und wuchsen. Zum einen musste die Industrie einen Strukturwandel zugunsten neuer Produkte und zukunftsorientierter Technologien mit entsprechendem Personal bewältigen – die Industriegesellschaft wandelte sich gerade zur Dienstleistungsgesellschaft.

Zum anderen forderte die Öffentlichkeit mittlerweile lautstark mehr Ausbildungskapazitäten für den akademischen Nachwuchs ein – nicht zuletzt, weil sie auch durch die jahrelange mediale Aufklärungsarbeit des Stifterverbandes wusste, welche Chancen ansonsten verpasst würden. Zudem fürchtete man in Westdeutschland nach Sputnik-Schock und Mauerbau die Konkurrenz aus dem Osten auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik.

Illustration: Stifterverband-Achiv
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Der Stifterverband fördert den Nachwuchs - Zeichnung aus der Broschüre „Wo bleibt eigentlich mein Geld“ aus den 1960er-Jahren.
Tagesschau-Interview mit Ludwig Raiser, Vorsitzender des Wissenschaftsrats, am Rande der Jahresversammlung des Stifterverbandes 1964
Ludwig Raiser (Foto: Stifterverband-Archiv)
Ludwig Raiser (Foto: Stifterverband-Archiv)
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Acht führende Wissenschaftler der Bundesrepublik ergriffen die Initiative, darunter Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg und der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Ludwig Raiser. Sie ermahnten 1961 die Politik in ihrem Tübinger Memorandum der Acht, dass „eine durchgreifende Neuordnung des Erziehungs- und Bildungswesens heute eine politische Aufgabe ersten Ranges ist“. Das konnte der Stifterverband nur unterstreichen.

Ernst Hellmut Vits, Vorsitzender des Stifterverbandes von 1955 bis zu seinem Tod 1970, ermahnte seinerseits: Der Wettstreit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme in der Welt beziehe sich nun einmal ganz besonders auf die Wissenschaften und die Förderung des Nachwuchses. Glücklicherweise habe die Bundesrepublik einen breiten Strom von Menschen aus allen Schichten, die in die Bildungseinrichtungen drängten, so Vits. Diese Chance dürfe man aber nicht vergeuden. Spätestens 1964 bekam der Notstand dann seinen Namen durch einen Alarmruf des Religionsphilosophen und Pädagogen Georg Picht: Alles spreche dafür, dass eine „Bildungskatastrophe“ bevorstehe. Warnungen, die der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß in den Medien als „saudummes Geschwätz“ abtat. Bundeskanzler Ludwig Erhard stieß ins gleiche Horn und kommentierte den Vorstoß: Es gebe „einen Intellektualismus, der in Idiotie umkippt, wenn der Intellektuelle nur die Unzufriedenheit schürt, von der Sache aber nichts versteht“.

Ernst Hellmut Vits und Richard Merton (Foto: Photo-Holtmann)
Ernst Hellmut Vits und Richard Merton (Foto: Photo-Holtmann)
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Ernst Hellmut Vits (Vereinigte Glanzstoff- Fabriken, links), seit 1955 Vorstandsvorsitzender des Stifterverbandes mit seinem VorgängerRichard Merton (Metallgesellschaft, rechts)

„Ich meine, dass wir die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre leichter sichern können, wenn wir neben dem, was der Staat tut, auch selbst unmittelbar etwas tun, um diese Dinge mitsteuern zu können.“

Ernst Hellmut Vits, Vorstandsvorsitzender des Stifterverbandes von 1955 bis 1970

Umstrukturkturierung des Stifterverbandes

Der Stifterverband, der sich seiner tragenden Rolle in den Auseinandersetzungen um Bildung und Forschung nur allzu bewusst war, stand derweil vor einer ganz eigenen Herausforderung: Die Spenden schrumpften. In den 60er-Jahren rückte eine Generation auf die Entscheidungspositionen der Wirtschaft nach, für die Weimarer Republik oder „Drittes Reich“ Jugenderinnerungen waren. Das Argument der „Not der Wissenschaft“ nach dem Krieg verblasste allmählich. Die neuen Manager in den westdeutschen Führungsetagen verstanden sich weit weniger als Mäzene für Wissenschaft und Forschung als noch die Größen des Industriezeitalters.

Rückgrat des Stifterverbandes war traditionell die Montanindustrie gewesen, die ihren wirtschaftlichen Zenit überschritten hatte. Infolge der Steinkohlekrise 1960 rechnete der Stifterverband mit jährlichen Einnahmeverlusten von rund einer Million Mark. Einzelne Verbände bauten zu allem Überfluss die Belegschaftsumlage zugunsten der verbandseigenen Forschung ab. Ohne Frage: Eine Neuausrichtung des Stifterverbandes pressierte. Schatzmeister Hermann Winkhaus fing die Stimmung im Stifterverband 1965 ein, als er gegenüber den Vorstandskollegen äußerte: Man müsse sich die wichtige Frage stellen, ob die Dynamik der vergangenen Jahre erloschen sei, weil der Stifterverband 15 Jahre nach der Gründung bereits zu sehr administriere, verwalte, sich in der Routine begnüge oder gar beginne zu resignieren.

Grafik: Stifterverband-Archiv
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Die Förderstruktur des Stifterverbandes in den 1960er-Jahren

Tatendrang und frische Ideen waren gefragt, die der neue Generalsekretär Thorwald Risler ab 1965 realisierte. Bereits seine Wahl war ein Statement: Risler hatte Erfahrungen als Mittelständler und besaß Kenntnisse im Stiftungswesen. Unter seiner Leitung verankerte sich der Stifterverband in den Regionen über den Aufbau von Landeskuratorien (Kasten), was ihm die Nähe zum Mittelstand ermöglichte. Der Verband war nun für alle sichtbar keine reine „Veranstaltung der Großindustrie“ mehr.

Über die Jahre baute der Generalsekretär zudem die Verwaltung von Stiftungen kräftig aus, was dem Stifterverband langfristig eine finanzielle Basis für seine Förderarbeit sicherte. Darüber hinaus rückte die traditionelle Vergabepraxis der Spenden in den Fokus: Bislang überwies der Stifterverband weitestgehend pauschal seine Fördersummen an die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Max-Planck-Gesellschaft. Welchen Nutzen die Mittel dort erzielten, blieb nach außen hin bis auf wenige Ausnahmen nahezu unsichtbar – was die Spendenwerbung erschwerte. Thorwald Risler nannte vor dem Landeskuratorium Baden-Württemberg 1969 Lösungsansätze für dieses Problem: Die Mittelvergabe des Stifterverbandes müsse konkret werden, bestimmte Förderschwerpunkte seien zu entwickeln. Ziele, die der Verband in den 1970er-Jahren gegen einigen Widerstand aus den Reihen der Empfänger auch durchsetzte.

Landeskuratorium Hessen 1965 (Foto: Rudolph)
Landeskuratorium Hessen 1965 (Foto: Rudolph)
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Thorwald Risler

Seine klare Haltung gegen den Nationalsozialismus verwehrte Thorwald Risler (im Bild am Tisch rechts außen) eine wissenschaftliche Laufbahn. So absolvierte er zunächst eine kaufmännisch-technische Ausbildung, war nach dem Krieg Lehrer für Sprachen an der Schule Schloss Salem, an deren Neugründung er beteiligt war, und übernahm 1959 den Vorstand der Geschwister-Scholl-Stiftung. Zwischen 1965 und 1978 wirkte er als Generalsekretär des Stifterverbandes als ständiger Mittler zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Risler initiierte die Stiftungsverwaltung als neues Aufgabengebiet des Stifterverbandes. Das weithin sichtbare Lebenswerk Rislers war das Wissenschaftszentrum Bonn, das er maßgeblich vorantrieb und mit Überzeugung und Beharrlichkeit – lange Zeit auch gegen viele Widerstände – in der  Wissenschaftsszene etablierte.

Auf Regionalität gesetzt - die Landeskuratorien des Stifterverbandes

Wie lässt sich die Spendenbereitschaft des Mittelstands stärken? Welche Wünsche haben potenzielle Spender? Und wie können Unternehmen mehr in die Arbeit des Stifterverbandes involviert werden? Fragen wie diese waren es, die den Stifterverband Mitte der 1960er-Jahre dazu bewogen, seine Strukturen zu dezentralisieren. Es folgte die Errichtung von Landeskuratorien, zunächst in Baden-Württemberg und Bayern (1964). In den kommenden Jahren entstanden weitere regionale Vertretungen, insgesamt neun. Mitglieder der jeweiligen Landeskuratorien sind Repräsentanten der regionalen Wirtschaft, der Wissenschaftsorganisationen vor Ort sowie Einzelpersönlichkeiten. Sie werden vom Präsidenten des Stifterverbandes in Abstimmung mit dem Vorsitzenden des jeweiligen Landeskuratoriums auf drei Jahre berufen.

Im Laufe der Jahre entwickelten sich die Landeskuratorien zu wichtigen Säulen des Stifterverbandes, trugen sie doch den Gedanken der Wissenschaftsförderung landesweit in die Wirtschaft. Dabei dienen sie vor allem dem Austausch über wissenschaftspolitische Fragen wie Digitalisierung in der Bildung oder neue Impulse für das Lehren und Lernen, vernetzen Entscheider vor Ort und bündeln so ihr Engagement für Bildung, Wissenschaft und Innovation. Mit ihren regelmäßigen öffentlichen Veranstaltungen leisten die Landeskuratorien zudem einen wichtigen Beitrag zu den Aktivitäten des Stifterverbandes, die dadurch sowohl regional als auch über das gesamte Jahr hinweg gut verteilt sind und für eine hohe Präsenz des Stifterverbandes sorgen.

Unruhige Zeiten für den Stifterverband

Studentenrevolte 1968: Das Audimax der Technischen Universität Berlin war beim sogenannten Internationalen Vietnamkongress bis auf den letzten Platz gefüllt.
Foto: Stiftung Haus der Geschichte, [Ludwig Binder Haus der Geschichte Studentenrevolte 1968](https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ludwig_Binder_Haus_der_Geschichte_Studentenrevolte_1968_2001_03_0275.0001_(16477004053).jpg), CC BY-SA 2.0
Foto: Stiftung Haus der Geschichte, [Ludwig Binder Haus der Geschichte Studentenrevolte 1968](https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ludwig_Binder_Haus_der_Geschichte_Studentenrevolte_1968_2001_03_0275.0001_(16477004053).jpg), CC BY-SA 2.0
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Transparenz tat auch aus einem anderen Grund dringend not: Die massiven Studentenproteste an den deutschen Universitäten stellten das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft auf eine harte Probe – und rüttelten damit an der Basis des Stifterverbandes. Man betrachtete zunächst von außen kopfschüttelnd die hilflosen Reaktionen der Universitäten auf die Revolte, bei der erst Tomaten und später Steine auf Professoren flogen. Dann gerieten Wissenschaft, Wirtschaft und Stifter verband selbst unaufhaltsam in den Sog der Proteste. Der Slogan der Stunde, „Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren“, der auf die Verstrickung zahlreicher Professoren in das NS-Regime anspielte, galt ebenso für sie.

Die Studenten verweigerten sich nicht nur den Zwängen des universitären Betriebs, sondern ebenso den Inhalten „bürgerlicher“ Wissenschaften. Dann eskalierte der Protest über den aktiven Widerstand zur illegalen Aktion. Zunächst versuchte sich der Stifterverband rauszuhalten. Er vermied eigene Aussagen in hochschulpolitischen Auseinandersetzungen, bekam aber zunehmend den Vertrauensverlust der Wissenschaft zu spüren: über die Geldgeber aus den Kreisen der Wirtschaft. Mitglieder des Stifterverbandes fragten nach, ob der Stifterverband tatsächlich besonders „revolutionäre“ Hochschulinitiativen fördere.

Tatsächlich geriet der Stifterverband in Erklärungsnot wegen einer Anfrage auf Förderung des Bunds Freiheit der Wissenschaft – einer Gruppe, die sich als Reaktion auf psychische und physische Gewalt von Teilen der Studentenrevolte formiert hatte und Andersdenkende an den Universitäten schützen wollte. Um nicht weiter zwischen die Fronten zu geraten, stellte der Stifterverband seine bislang üblichen Hilfen für hochschulpolitische Organisationen schrittweise ein. Kluge Zurückhaltung war im Verband das Gebot der Stunde.

100 Jahre Stifterverband

Die 1960er Jahre im Bild 

2020 feiert der Stifterverband Jubiläum. Begeben Sie sich hier auf MERTON in den kommenden Wochen gemeinsam mit uns auf Expedition durch 100 Jahre Stifterverband - von der Vermessung des Atlantiks über die wiederaufgebauten Hochschulen und Forschungseinrichtungen nach dem zweiten Weltkrieg, über die Studentenproteste und die wiedervereinte Wissenschaftslandschaft bis hin zum digitalen Bildungsneuland. Um weitere Texte zur Geschichte des Stifterverbandes zu lesen, suchen Sie einfach nach dem Schlagwort „100 Jahre Stifterverband“.

Weitere Informationen zum Jubiläum und den geplanten Veranstaltungen finden Sie auch unter www.stifterverband2020.de

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