Wissenschaftskommunikation

Abtauchen in die graue Vorzeit

Friedemann Schrenk (Foto: Christian Bohnenkamp)
Friedemann Schrenk (Foto: Christian Bohnenkamp)
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Auf einem schwarzen Hocker hat Friedemann Schrenk Platz genommen, ein unbequemer Sitz aus hartem Holz. Das Licht ist dämmrig, einzig die riesige Vitrine ein paar Meter entfernt ist hell erleuchtet. Vom Boden bis zur Decke füllt sie eine ganze Wand des gewaltigen Saals, mehr als ein Dutzend Meter lang und vollgestellt mit ausgestopften Tieren, mit Knochen, mit Fossilien. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main ist eine Institution unter Naturforschern mit seiner weltbedeutenden Sammlung; es ist ein Denkmal für die Wissenschaftsbegeisterung zu Beginn des 19. Jahrhunderts; für die Universalgelehrten aus jener Zeit, als das Museum wie ein imposanter Palast für die Forschung entstand.

Sein Büro hat Friedemann Schrenk ein paar Türen vom Vitrinensaal entfernt. Der Paläoanthropologe mit seinen markanten grauen Locken ist in seinem Fachgebiet einer der bekanntesten Forscher weltweit. Hat er sich nachts schon einmal einschließen lassen hier im Senckenberg Naturmuseum, vor dem sich wochenends lange Schlangen von Besuchern bilden, so faszinierend, wie die Ausstellungen sind? Schrenk lacht kurz auf und winkt ab. „Nein, da habe ich noch nie drüber nachgedacht. Ich bin lieber draußen in der Natur!“ Für ihn bedeutet das vor allem: in Afrika. Ein paarmal pro Jahr ist er dort auf Forschungsreisen unterwegs und wenn er zurück ist in Deutschland, dann berichtet er oft von der Paläoanthropologie im Allgemeinen – der Forschung also zur Stammesgeschichte des Menschen – und seinen Entdeckungen im Besonderen.

Wenn er vorträgt, wird aus den versteinerten Knochen auf einmal das spannendste Thema überhaupt; die Zuhörer hängen ihm an den Lippen. So wie bei jenem Vortrag, den er vor einigen Jahren in einem Theater in Berlin gehalten hat. Im Archiv eines Fernsehsenders, der damals übertrug, ist der Vortrag noch zu sehen. Schrenk steht vor einem grünen Vorhang, er trägt ein legeres schwarzes T-Shirt unter seinem schwarzen Jackett.

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Illustration: Lisa Syniawa
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Diese Forscher sind Stars. Denn sie arbeiten nicht nur in Labors, sitzen nicht nur in Bibliotheken. Stattdessen stehen sie als Medienprofis sehr oft auf den großen Bühnen des Landes. Sie können meisterhaft über Forschung reden, sie begeistern für das, was vielen Bürgern sonst nicht zugänglich wäre. Solche begnadeten Wissenschaftskommunikatoren als Vorbilder zu adeln und ihr außergewöhnliches Engagement zu belohnen, war im Jahr 2000 die Idee des Stifterverbandes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seitdem vergeben sie gemeinsam jährlich den „Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“. Der Stifterverband steuert das Preisgeld bei (50.000 Euro), die DFG sucht die Preisträger aus. Friedemann Schrenk erhielt den Communicator-Preis im Jahr 2006.

Hallo und willkommen zu einem kurzen Gang durch die lange Geschichte der Menschheit, sechs Millionen Jahre zurück. Sie alle können sich hoffentlich an Ihre Elterngeneration erinnern, die meisten auch an die Großeltern, aber bei den Urgroßeltern hört es meistens schon auf. Das heißt also: Wir persönlich haben nur ein geringes Erinnerungsvermögen. Und ich rede hier bei den sechs Millionen Jahren Menschheitsgeschichte von 300.000 Generationen.

Jetzt im Vitrinensaal des Senckenberg Naturmuseums holt Friedemann Schrenk einen Unterkieferknochen aus der Tasche. Es ist ein Abguss jenes Fundes, der ihn zu Beginn seiner Karriere berühmt gemacht hat: In Malawi fand er mit seinen Helfern im Jahr 1991 den bezahnten Unterkiefer eines 2,4 Millionen Jahre alten Hominiden. „UR 501“ wurde der Fund in der Fachwelt genannt und über fast anderthalb Jahrzehnte war er das älteste Überbleibsel der Gattung Mensch, das jemals gefunden wurde. 

„Wir waren schon lange an der Fundstelle tätig“, erinnert sich Friedemann Schrenk. „Wir wussten um das Alter der Schichten, die wir da untersuchten, und die Arbeit war mühsam. Sie müssen sich vorstellen, dass man da pro Quadratkilometer im Durchschnitt einen Fund macht. Bis dahin hatten wir Reste von Antilopen gefunden und Zähne von Elefanten – und dann ist es natürlich ein toller Moment, wenn man nach zehn Jahren endlich etwas vom Menschen findet!“ Friedemann Schrenk hält den Abguss des versteinerten Unterkiefers in seiner Hand; hier im Museum wirkt der Fund unscheinbar. 

Foto: [Gerbil_Unterkiefer HCRP-UR 501](https://de.wikipedia.org/wiki/UR_501#/media/Datei:HPCR-UR_501-04.jpg, [CC BY-SA 3.0](https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) via [Wikimedia Commons](https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HPCR-UR_50)
Foto: [Gerbil_Unterkiefer HCRP-UR 501](https://de.wikipedia.org/wiki/UR_501#/media/Datei:HPCR-UR_501-04.jpg, [CC BY-SA 3.0](https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) via [Wikimedia Commons](https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HPCR-UR_50)
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Fossiler Unterkiefer HCRP-UR 501, geborgen durch den deutschen Paläoanthropologen Friedemann Schrenk in Uraha, Malawi

Was wir zur Verfügung haben, sind im Wesentlichen Knochen und Zähne. Das sind die härtesten Bestandteile im Körper. Gehirn fossiliert nicht, Sprache fossiliert nicht, auch Lachen ist nicht fossil überlieferbar. Wir haben also Knochen und Zähne, und selbst von denen haben wir sehr wenige. Statistisch gesehen haben wir alle 200 Generationen ein Fragment. Das ist ungefähr so, als würden wir versuchen, die Geschichte Mitteleuropas anhand eines römischen Krugs und einer Cola-Dose zu rekonstruieren.

Friedemann Schrenk, Jahrgang 1956, muss man sich als Kind vorstellen, um seinen Werdegang als Forscher zu verstehen. Daheim auf der Schwäbischen Alb gab es ein paar Schritte vom Elternhaus entfernt einen Hügel, der übersät war mit Versteinerungen. „Ich bin mit ihnen aufgewachsen“, sagt Schrenk. „Schon als Vierjähriger habe ich Ammoniten gesehen. Man schlägt mit einem Hammer auf den Stein und wenn er sich öffnet, entdeckt man etwas, was noch nie jemand vor einem gesehen hat.“ Später studierte er in Darmstadt und lernte, wie man aus den fossilen Spuren etwas über die Geschichte der Welt lernen kann – und wie einem jeder noch so unscheinbare Fund etwas über die Entwicklung des Lebens, über die Entwicklung des Menschen verrät. Und wie klimatische Änderungen immer wieder dazu geführt haben, dass die Evolution den Menschen verändert hat. Der aufrechte Gang etwa hänge eng damit zusammen, dass sich die Vegetation an Land verändert hat und nicht mehr genügend Essen bot, so Schrenk.

Der aufrechte Gang ist entstanden aufgrund der Nahrungssuche in Gewässern. Sein Beginn waren nicht die langen Beine, die wir heute haben: Am Anfang waren die Beine kurz und die Arme lang. Erst nachdem der aufrechte Gang entstanden war, haben sich die Beine verlängert, um den aufrechten Gang auch energetisch sinnvoll zu gestalten. Die Entwicklung in diesen sechs Millionen Jahren ging ganz langsam.

Derzeit ist Friedemann Schrenk wieder in Afrika unterwegs, ein See in Malawi hat es ihm angetan. „Er ist 600 Kilometer lang, 800 Meter tief und völlig unerforscht“, sagt er. Mit seinen Kollegen nimmt er Sedimentproben vom Boden des Sees, um dort möglicherweise wieder neue Spuren vom Menschen und seiner Entwicklung zu finden. Mit einem eigens konstruierten Floß sind sie unterwegs, um von dort aus auf den Grund des Sees zu kommen.

Spätestens vor drei Millionen Jahren waren sie überall in Afrika verbreitet, und so haben sie eigentlich lustig gelebt, die Menschen, und vielleicht hätten sie noch weiter so gelebt, wenn nicht wieder etwas Dramatisches passiert wäre: Damals haben sich in der nördlichen Hemisphäre die Eiszeiten entwickelt. In Afrika wurde es deshalb noch trockener, da sind für fast 200.000 Jahre die Regenzeiten beinahe völlig ausgefallen – das sind 10.000 Generationen. Für diese 10.000 Generationen war das Nahrungsangebot völlig verändert.

Foto: Christian Bohnenkamp
Foto: Christian Bohnenkamp
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Friedemann Schrenk deutet auf die Exponate, die hier im Vitrinensaal hinter dem Glas aufgestellt sind. Seltene Vögel sind dabei, Raubtiere, aber auch Abdrücke von prähistorischen Reptilien. „Die Vielfalt der Natur beeindruckt mich immer wieder, die Geo- und Biodiversität“, sagt er. Und dann nimmt er die Perspektive des Forschers ein, der die Entwicklungen in Schritten von Jahrtausenden verfolgt: Erfolgreich sei eine Spezies dann, wenn sie lange überlebe. Die Dinosaurier hätten da den Menschen sehr viel voraus: 140 Millionen Jahre waren sie auf der Erde, der heutige Mensch – der Homo sapiens – bringe es hingegen auf bislang gerade einmal 300.000 Jahre. Und dann erzählt er von einer Entwicklung, die es lange Zeit parallel gegeben habe: Als sich die Nahrung wieder einmal veränderte und es mehr Nüsse und hartfaserige Früchte gab, entstanden sogenannte Nussknackermenschen. Sie hatten ein besonders ausgeprägtes Gebiss, mit dem sie an die Nahrung herankamen. Und gleichzeitig gab es die Vorläufer der heutigen Menschen, die erstmals Werkzeug verwendeten.

Seither reden wir bei der Gattung Mensch von einer biokulturellen Evolution. Bei der biologischen Evolution wird die Information über die Gene weitergegeben, bei der kulturellen Evolution letztlich über die Sprache – dann, wenn es um Werkzeuge, um Kulturtechniken geht. Spätestens vor zwei Millionen Jahren haben die Menschen zum ersten Mal Afrika verlassen und sich dann praktisch über die ganze Welt verbreitet.

Sein Fachgebiet, die Paläoanthropologie, sieht Friedemann Schrenk als eine politische Disziplin. „Mein Hauptinteresse“, sagt er und beugt sich vor auf dem schwarzen Hocker im Vitrinensaal, „ist die Erfindung des Rassismus.“ Es ärgere ihn, dass immer noch die Meinung vertreten werde, Afrika habe keine Geschichte. „Das fing mit Hegel an, der es so eindeutig formulierte, und zieht sich bis heute hin.“ Dabei sei die Wiege der Menschheit in Afrika zu verorten, heute weiß man das. Das war aber nicht immer so: Als 1891 die ersten versteinerten Reste von Menschen in Südostasien gefunden wurden, brach für die damaligen Forscher ein Weltbild zusammen: Sollte die Menschheit etwa nicht in Europa entstanden sein?

Ohnehin gehe es in der Paläoanthropologie viel um Interpretation, sagt Friedemann Schrenk – anders gehe das schließlich auch gar nicht, wenn man außer einigen Knochenresten keinerlei Anhaltspunkte habe. Und die Interpretationen seien naturgemäß stark gefärbt von der Zeitgeschichte. Schrenk erinnert sich an seine Studienzeit, in der die Zuspitzung des Kalten Kriegs noch in frischer Erinnerung war. „Damals gab es die Hypothese, dass sich die Vormenschen gegenseitig die Schädel eingeschlagen haben“, sagt er. Im Studium ist er erstmals nach Südafrika gefahren, um sich das vor Ort anzuschauen. Ein erfahrener Kollege reichte ihm einen Antilopenknochen, der vorn glatt geschliffen war wie eine Waffe. „Das war für ihn der Beweis für die Aggressionshypothese – dabei stellte sich später heraus, dass die glatt geschliffene Oberfläche durch die neuzeitlichen Besucher zustande kam, die sich den Knochen von Hand zu Hand gereicht haben.“

Foto: Christian Bohnenkamp
Foto: Christian Bohnenkamp
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Friedemann Schrenk und die Wissenschafts­kommunikation

2006 erhielt der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk den Communicator-Preis für die außergewöhnliche Vermittlung seiner Forschung in die Öffentlichkeit. Hier spricht er darüber, warum Wissenschaftskommunikation so bedeutend ist. 

Dann musste die Wiege der Menschheit zurückgeholt werden. Aber natürlich nicht nach Deutschland oder Frankreich, sondern nach England. Deswegen wurde dort im Jahr 1913 ein Fossil gefälscht. Man hat Folgendes gemacht: Man hat den Unterkiefer genommen von einem Affen, den Schädel von einem Menschen, man hat die Zähne ein bisschen abgefeilt und das Ganze in eine Kiesgrube gepackt. Dort wurde es dann gefunden. Und das sollte beweisen, dass die Wiege der Menschheit in England war. Sie sehen: Da steckt ein politisches Weltbild dahinter.

Es gebe keinen Beleg für menschliche Aggressionen bis zu dem Moment, wo die Besiedlungsdichte der Welt und damit auch Konkurrenzkämpfe zugenommen hätten. In den 1970er-Jahren dann habe die Wissenschaft versucht, die Menschheitsgeschichte aus der Perspektive der Gleichberechtigung der Frau zu verstehen, wohingegen heute Klimafragen im Vordergrund stünden. „Wir können natürlich nur so interpretieren, wie unser Weltbild ist“, sagt Schrenk. Die Fossilien würden also öfters uminterpretiert. „Es gibt eben kein Richtig und kein Falsch.“

Hätte er mit seinem Interesse am Rassismus nicht eher Soziologie oder Politologie studieren sollen als ausgerechnet alte Knochen? Friedemann Schrenk winkt ab. Ja, das hätte er auch machen können. „Wirklich interessant“, sagt er dann, „wird die Entwicklung des Menschen aber sowieso erst im Lauf von 10.000 Generationen.“

Über diese Serie

20 Jahre Communicator-Preis - Grund genug für MERTON, die bisherigen 20 Preisträger in einer besonderen Bild- und Artikelserie zu würdigen. Nicht nur der Fotograf Christian Bohnenkamp setzt die Protagonisten in stimmungsvolles Licht, auch der Autor Kilian Kirchgeßner bringt sie in seinen Texten zum Leuchten. Wer die ausdrucksstarke Bilder einmal aus der Nähe sehen will: Das Wissenschaftszentrum Bonn präsentiert die Werke voraussichtich im Sommer 2021 in einer kleinen Retrospektive. 

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