Impact of Science

Von der Forscherin zur Unternehmerin

Helga Rübsamen-Schaeff (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
Helga Rübsamen-Schaeff (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
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Stellen Sie sich vor, Sie laufen einen Marathon; Sie haben jahrelang trainiert, jetzt sind Sie bei Kilometer 39, auf der Zielgeraden, und Sie sind sicher, dass Sie es schaffen werden, jubeln schon innerlich – und dann wird die Veranstaltung plötzlich abgebrochen. So in etwa hat sich Helga Rübsamen-Schaeff im Januar 2005 gefühlt. 

Jahrelang hatte sie beim Pharmaunternehmen Bayer nach Wirkstoffen gegen Infektionskrankheiten gesucht. Dann, als sie damals 13 Kandidaten identifiziert hatte, die aussichtsreicher waren als alles, was sie zuvor gefunden hatte, stellte Bayer seine Aktivitäten in der Infektionsforschung ein. Doch die Forscherin machte aus dem Ende einen Anfang: den Beginn einer einmaligen Erfolgsgeschichte, die der Infektiologie und der Transplantationsmedizin einen Fortschrittsschub verschaffte und die Behandlung und das Leben von Tausenden Patienten verbesserte. Und vor wenigen Wochen gab es für diese Leistung eine ganz besondere Krönung: Helga Rübsamen-Schaeff wurde zusammen mit ihrem Kollegen Holger Zimmermann mit dem renommierten Deutschen Zukunftspreis, dem Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation, ausgezeichnet. 

Nicht entmutigen lassen

Rübsamen-Schaeff war bei Bayer zuständig für die Suche nach Wirkstoffen gegen Infektionserreger, unter anderem gegen das Cytomegalie-Virus, kurz CMV, das zur Gruppe der Herpesviren gehört. Das Virus ist medizinisch höchst bedeutsam, auch weil es weltweit verbreitet ist, in Deutschland trägt jeder Zweite das Virus in sich. Meist schlummert es nach der Infektion – von der man kaum etwas mitbekommt, weil sie völlig unauffällig verläuft – in den Körperzellen. Vor allem wenn das Immunsystem angeschlagen oder stark eingeschränkt ist, zum Beispiel bei Transplantationen oder AIDS, wird das CMV wieder aktiviert und kann großen Schaden anrichten. Ein wirksames Medikament, mit dem man der Reaktivierung des Virus bei Empfängern von Knochenmark vorbeugen konnte, existierte noch nicht. Das Unternehmen Bayer und seine Angestellte Rübsamen-Schaeff wollten das ändern.  

Über Jahre suchte Rübsamen-Schaeff mit ihrer Abteilung nach geeigneten Wirkstoffen. „Ich wollte einen Wirkstoff finden, der gezielt an einem Eiweißkomplex angreift, den nur das Virus aufweist und der beim Menschen nicht vorkommt“, erzählt sie. Sie fand verschiedene Kandidaten, die das Virus hemmten, doch bei der ersten Prüfung am Menschen eigneten sich die beiden ersten Wirkstoffe für eine Weiterentwicklung nicht: Die nötigen Spiegel im Menschen wurden nicht erreicht. 

Solche Misserfolge und enttäuschten Hoffnungen gehören zu den langsamen Mühlen und Mühen der Forschung – Rübsamen-Schaeff ließ sich nicht von ihnen zermahlen. „Ich suchte in einem neuen Versuch wieder nach einem Wirkstoff, der gezielt an einem Eiweißkomplex wirkt, den nur das Virus aufweist“, erzählt sie. Und siehe da, sie fand in der Wirkstoffbank von Bayer einen vielversprechenden Kandidaten, der zum Wirkstoff optimiert werden konnte. Der Vorteil gegenüber den bisherigen Ansätzen lag auf der Hand: Die Therapie war spezifisch auf das Virus zugeschnitten, die Nebenwirkungen dürften geringer sein. Darüber hinaus fand Rübsamen-Schaeff auch noch zwölf andere vielversprechende Wirkstoffkandidaten, die unter anderem für Therapien von anderen Herpesviren, von Hepatitis und von multiresistenten Krankenhauskeimen infrage kamen. 

Jahrelange Laborarbeit umsonst?

Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis
Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis
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Doch dann, gerade als sie die entdeckten Wirkstoffe in Studien weiter prüfen wollte, kam die Nachricht von der Konzernleitung: Bayer stellte seine Forschungsaktivitäten in der Infektionsforschung ein. Der Marathon sollte bei Kilometer 39 abgebrochen werden. „Ich bin natürlich zum Vorstand gegangen und habe dafür geworben, diesen Schritt nicht zu tun“, sagt Rübsamen-Schaeff. Ihre Argumente waren einleuchtend: „Wir leben in einer globalisierten Welt, Infektionen sind eines der großen Themen der Gegenwart und Zukunft und Bayer hat auf dem Gebiet eine große Tradition.“ Die Antwort, die sie bekam, war enttäuschend, ermutigend und herausfordernd zugleich: Die Entscheidung sei gefallen, aber wenn sie sich so sicher sei mit ihren Wirkstoffkandidaten, solle sie doch ein Unternehmen gründen!

Neustart als Unternehmerin

Rübsamen-Schaeff war Forscherin, sie kümmerte sich um die Arbeit im Labor – sollte und konnte sie Unternehmerin werden? Bayer wollte ihr keinerlei Finanzierung zur Verfügung stellen, aber man war immerhin bereit, ihr die 13 Wirkstoffkandidaten ohne direkte Zahlungen zu übertragen. Sie wusste: Würde sie den Schritt nicht wagen, dann würden ihre Entdeckungen in den Schubladen verschwinden. Also fing sie an zu überlegen, wie denn die neue Firma aussehen könnte und wie viel Geld sie brauchen würde. Die Antwort war: Es waren zweistellige Millionenbeträge über mehrere Jahre nötig.

Sie trug mit ihren Mitarbeitern über mehrere Monate vor diversen potenziellen Investoren ihre Ideen vor. Und dann kam die Nachricht, dass die Strüngmann-Brüder das von ihnen gegründete Unternehmen Hexal verkauft hatten. Sie rief an und nach einigen Monaten fiel die Entscheidung: Die früheren Generikahersteller stellten sich als Risikokapitalgeber zur Verfügung. Nun hatte Rübsamen-Schaeff die Sicherheit, die sie brauchte. Und sie gründete ein eigenes Unternehmen: AiCuris, eine Kurzform des englischen Begriffs „Anti-infective Cures“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r.) übergab den Deutschen Zukunftspreis 2018 an Helga Rübsamen-Schaeff (2.v.l.) und Holger Zimmermann (l.)
Holger Zimmermann und Helga Rübsamen-Schaeff (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
Holger Zimmermann und Helga Rübsamen-Schaeff (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
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Rübsamen-Schaeffs Arbeit veränderte sich. Sie war plötzlich Ansprechpartnerin für alles, IT-Umgebung, Laboreinrichtung, Finanzen, Forschung, Personal, Öffentlichkeitsarbeit, Kooperationen – und sie hatte niemanden mehr über sich, an den sie sich wenden konnte. Das brachte eine ganz neue Verantwortung mit sich, auch für die 21 Mitarbeiter, die sie von Bayer übernommen hatte. Aber Rübsamen-Schaeff übertrug ihren Mitarbeitern viel Verantwortung, alle bildeten sich weiter, bei kaufmännischen Themen erhielt sie Unterstützung von einer Schwesterfirma aus der Strüngmann-Gruppe und sie gewöhnte sich daran, zu lenken und Entscheidungen zu treffen. Die fielen im Zweifel für die Forschung aus: Sie verfolgte alle 13 Wirkstoffkandidaten weiter. „Ich wusste, dass ich nur dann eine realistische Chance auf Erfolg hatte“, sagt Rübsamen-Schaeff. Denn die Statistik sagt: Nur einer von zehn Wirkstoffkandidaten, der erstmalig am Menschen geprüft wird, schafft es in den Markt. Mit 13 Kandidaten sollte es klappen. Aber garantieren konnte es niemand. Und die klinische Entwicklung der Wirkstoffkandidaten bis zur Markteinführung war ein neuer Marathon, den sie durchhalten musste.

„Ich erinnere mich noch gut, es war kurz vor Weihnachten, da schickte mir eine französische Mitarbeiterin eine erste Auswertung der klinischen Phase-II-Studie mit unserem Wirkstoff bei Knochenmarktransplantierten. Die Daten sahen super aus, ich war begeistert!“ In den folgenden Wochen landeten neue überzeugende Daten auf Rübsamen-Schaeffs Schreibtisch und mit jedem weiteren Detail wuchs die Überzeugung, dass der Wirkstoffkandidat gegen das CMV es auf den Markt schaffen könnte. Es war allerdings noch eine weitere klinische Studie der Phase III nötig und dafür schloss Rübsamen-Schaeff einen Lizenzvertrag mit dem Pharmariesen MSD, der die Studie dann auch mit Erfolg durchführte.

Heute wird das Medikament, das Rübsamen-Schaeff und ihr Team aus dem Wirkstoff entwickelt haben, vor allem bei Knochenmarktransplantationen zur Verhinderung der Reaktivierung des Virus regelmäßig eingesetzt. Aber auch eine Studie zur Prophylaxe bei Nierentransplantierten läuft. Denn damit das Organ nicht abgestoßen wird, muss das Immunsystem des Empfängers unterdrückt werden – für das CMV eine Einladung, aus seinem Schlummerzustand zu erwachen und Schaden anzurichten.

Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis
Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis
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Die Wissenschaftler von AiCuris entwickelten neue Medikamente für Knochenmarktransplantierte

​Für Empfänger von Knochenmark gab es bislang kein Medikament, das vorbeugend eingesetzt werden konnte. Kam es zu einem Ausbruch des CMV, musste man hochtoxische Medikamente geben, ohne das Virus immer wieder unterdrücken zu können. In einigen Fällen führte dies zum Tod. Mithilfe des neuen Medikaments lässt sich das CMV nun bei Knochenmarktransplantierten in Schach halten – ohne schwerwiegende Nebenwirkungen: In der Zulassungsstudie hat sich für Transplantationspatienten, die mit dem Medikament behandelt wurden, ein signifikanter Überlebensvorteil gezeigt. In den USA ist die von Rübsamen-Schaeff entwickelte Therapie für Knochenmarktransplantationen inzwischen in die Leitlinien aufgenommen worden, das sind die offiziellen Therapieempfehlungen von den zuständigen Fachärzten.

Das Medikament beschert dem Unternehmen mittlerweile einen ordentlichen Umsatz, aus dem man weitere Forschungsaktivitäten finanzieren kann. Helga Rübsamen-Schaeff hat Anfang 2015 das operative Geschäft ihres Unternehmens Holger Zimmermann übergeben, sie selbst bleibt Vorsitzende im Wissenschaftlichen Beirat des Unternehmens.

„Forschung ist spannender als jeder „Tatort“.“

Helga Rübsamen-Schaeff (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
Helga Rübsamen-Schaeff (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
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Helga Rübsamen-Schaeff
Forscherin und Gründerin von AiCuris

Der Zukunftspreis, der ihr und Holger Zimmermann verliehen wurde, ist eine besondere Auszeichnung für die beiden. Nicht nur, weil er mit 250.000 Euro dotiert ist, sondern auch, weil er besonders begehrt und prestigeträchtig ist. Die Auszeichnung erhalten in der Regel nur Wissenschaftler, die in ihrem Feld international wirklich etwas bewegt haben. „Für die vorbeugende Behandlung gegen CMV bei Knochenmarktransplantationen gibt es weltweit nur unsere Substanz, alle Konkurrenzaktivitäten sind bislang gescheitert“, sagt Rübsamen—Schaeff. Die Firma AiCuris ist Weltmarktführerin auf diesem Gebiet.

Und Rübsamen-Schaeff will auch weiter etwas bewegen. Kürzlich brachte eine Studie vielversprechende Ergebnisse für einen Wirkstoff gegen die Herpes-simplex-Viren (HSV), die Verursacher von Lippenherpes (Typ 1) oder genitalem Herpes (Typ 2). „Wir stehen am Anfang, es gibt noch viel zu tun“, sagt Rübsamen-Schaeff lächelnd. Mit ihrem Anteil am Deutschen Zukunftspreis will Rübsamen-Schaeff übrigens junge Naturwissenschaftlerinnen fördern, damit auch sie es schaffen, in den Mühlen der Forschung zu bestehen. Denn Forschung ist „spannender als jeder ‚Tatort‘“, sagt Rübsamen-Schaeff. Das weiß sie aus eigener Erfahrung.

Preisverleihung (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
Preisverleihung (Foto: Ansgar Pudenz/Deutscher Zukunftspreis)
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Deutscher Zukunftspreis

Der "Deutsche Zukunftspreis – Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation" wird einmal im Jahr verliehen und ist mit 250.000 Euro dotiert. Mit dem Preis würdigt der Bundespräsident herausragende Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Eine hochrangig besetzte Jury bewertet die wissenschaftliche Leistung und die Marktfähigkeit der Innovation und die damit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen. Der Stifterverband übernimmt die Einwerbung des Preisgeldes und begleitet die Arbeit der Gremien des Preises.

Website des Deutschen Zukunftspreises
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