Lehre

Interaktives Spiel statt langweilige Vorlesung

Matthias Uhl und Michael Schermann (Illustration: Irene Sackmann)
Matthias Uhl und Michael Schermann (Illustration: Irene Sackmann)
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Wenn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei Tagungen und Konferenzen aufeinandertreffen, geht es beim Pausenkaffee oder beim Abendessen meistens um das aktuelle Forschungsprojekt: um die bürokratischen Herausforderungen der Drittmittelanträge und – natürlich – um die Publikationen, an denen man gerade arbeitet und die hoffentlich bald in einem renommierten Journal veröffentlicht werden. Klar, man möchte gerne Pflöcke einschlagen, will in der Wissenschaftscommunity wahrgenommen werden – ganz besonders, wenn man noch zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehört.

„Über Erfahrungen in der Lehre dagegen spricht man untereinander normalerweise kaum – gute Ideen für innovative Lehrveranstaltungen bringen halt nicht so viel Renommee“, bedauert Matthias Uhl. Der 41-jährige Volkswirt und Philosoph ist seit 2021 Professor für Gesellschaftliche Implikationen und ethische Aspekte der Künstlichen Intelligenz an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Wirtschaftsethik und Ethik der Digitalisierung möchte er auch seinen Studierenden nahebringen. Für ihn sind das sehr komplexe und wichtige Themen, mit denen sich Studierende der Informatik und Wirtschaftsinformatik oder der Betriebswirtschaftslehre vertieft beschäftigen sollten. Zu wichtig, um sie in einer Standardvorlesung abzuhandeln. Denn: „Was mir gerade besonders Spaß macht, ist, wenn ich den Eindruck habe, dass ich die Perspektive von Studierenden wirklich erweitere. Wenn sie plötzlich Positionen etwas abgewinnen können, die sie noch vor Kurzem als abwegig wahrgenommen haben.“

„Gute Ideen für innovative Lehrveranstaltungen bringen nicht so viel Renommee. “

Matthias Uhl
Professor für Gesellschaftliche Implikationen und ethische Aspekte der Künstlichen Intelligenz

Hacking als Lehrveranstaltung

2014, als Uhl noch an der Technischen Universität München (TUM) als Nachwuchsgruppenleiter forschte und lehrte, lernte er dort den zwei Jahre älteren Wirtschaftsinformatiker Michael Schermann, ebenfalls Nachwuchswissenschaftler, kennen, der ähnlich dachte wie er. Schermann, der heute hauptberuflich im kalifornischen Silicon Valley im Bereich Finanzdienstleistungen arbeitet und nebenher an einer privaten Hochschule lehrt, bot damals in seinem Fach eine Lehrveranstaltung über SAP-Systeme an. „Um das Ganze etwas weniger langweilig zu machen, habe ich daraus eine White-Hat-Hacker-Veranstaltung gemacht. Die Studierenden sollten sich in die Rolle von Hackerinnen und Hackern versetzen, die mit guten Absichten in Softwaresysteme eindringen und Schwachstellen in einem Finanzsystem aufdecken oder Datenmanipulationen aufspüren, um zu verstehen, wie Buchungen im SAP-System funktionieren.“ 

Dazu bildeten die Bachelorstudierenden, hauptsächlich aus dem Fach Wirtschaftsinformatik, zwei Teams: Das erste Team musste zunächst Fälle von Wirtschaftskriminalität simulieren, beispielsweise wenn Handelsunternehmen Waren, die vom Lkw „heruntergefallen“ sind, offiziell als Ausschussware verbuchen, während diese in Wirklichkeit illegal unter der Hand weiterverkauft werden. Ein anderes Beispiel sind sogenannte Piraten-Zuschläge – erhöhte Transportkosten, die erhoben werden, weil ein Frachter die Ware angeblich durch gefährliche Gewässer bringen muss (die sich später als nicht besonders gefährlich herausstellen). Ein anderes Studierendenteam versuchte derweil, seinen kriminellen Kommilitoninnen und Kommilitonen als Software-Detektive auf die Spur zu kommen.

Illustration: Irene Sackmann
Illustration: Irene Sackmann
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Den Studierenden habe der „White-Collar Hacking Contest“ sehr gefallen, erinnert sich Schermann schmunzelnd. „Aber die TU München hatte doch etwas Bedenken, weil wir die jungen Leute ja quasi zu kriminellen Handlungen animierten.“ An dieser Stelle kam Matthias Uhl als Wirtschaftsethiker für die Lehrveranstaltung als Partner ins Spiel. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich mit experimenteller Wirtschaftsforschung: „Wie reagieren Leute auf Anreize? Wie lassen sie sich zu Dingen – auch zu unethischem Verhalten – verleiten, die sie eigentlich ablehnen?“, beschreibt Uhl einige Aspekte.

Dieser Input aus der Wirtschaftsethik war inhaltlich die perfekte Ergänzung und Weiterentwicklung für die schon bestehende Lehrveranstaltung. Das ursprüngliche Prinzip – Team A wird kriminell, Team B deckt es auf, anschließend werden die Rollen getauscht und am Ende alle Vorgänge in einem Paper dokumentiert – blieb dabei erhalten. Als Partner aus der Praxis holten Uhl und Schermann Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüferinnen renommierter Firmen für Vorträge in die Lehrveranstaltung. „Sie haben den Realitätskontext geliefert und konnten bestätigen: Das, was die Studierenden in unserer Lehrveranstaltung als Hacker beziehungsweise Hackerinnen entwickelt haben, war gar nicht so weit von der Realität entfernt“, sagt Uhl.

Fellowships: Austausch wichtiger als finanzielle Förderung

Die beiden Wissenschaftler erfuhren von den Fellowships für Innovationen in der Hochschullehre des Stifterverbandes – und dass das Programm auch Tandems und ihre gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit 30.000 Euro förderte. „Auf die finanzielle Förderung kam es uns aber gar nicht so sehr an“, erinnert sich Schermann. Diese sei unter anderem in Aufwandsentschädigungen für Praxispartner, in studentische Hilfskräfte und in die Entwicklung eines Fallstudienkatalogs geflossen. „Viel wichtiger war uns der damit verbundene Austausch mit anderen Lehrenden – auch mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Fächer.“

Denn: „Unsere Lehrveranstaltung hat meines Wissens nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal und ist bislang das einzige Lehrprojekt, das nach dem Motto ‚Und führe mich nicht in Versuchung‘ versucht zu vermitteln, nach welchen Mechanismen Wirtschaftskriminalität funktioniert. Umso interessanter war es zu erfahren, was andere Lehrende davon halten.“ Uhl ergänzt: „Die Einbindung in das Fellowship-Programm hat sehr geholfen, das eigene Projekt zu reflektieren. So gab es durchaus auch mal kritische Stimmen dazu von anderen Fellows, die sich – ebenso wie ja auch die TU München – fragten, ob wir hier nicht Studierende zu Wirtschaftskriminellen ausbilden. Gerade für mich als Ethiker ist die Reflexion darüber unerlässlich.“

FELLOWSHIPS FÜR INNOVATIONEN IN DER HOCHSCHULLEHRE

Weg von der Vorlesung mit abgelesenen Skripten, hin zu innovativen Lehrformaten, bei denen die Studierenden im Mittelpunkt stehen – das war das Ziel des Fellowship-Programms von Stifterverband und Baden-Württemberg Stiftung. Ob Virtual Reality in der Vorlesung, Chatbots als Tutor, neue Prüfungsformate oder der Einsatz von Kunst in der Wissenschaftskommunikation: Die Fellowships sollen Anreize für Lehrende schaffen, neue Wege in der Hochschullehre zu entwickeln und die Studierenden damit fit zu machen für die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0. Zwischen 2011 und 2020 wurden jährlich bis zu 15 Fellowships ausgeschrieben, die je nach Art unterschiedlich dotiert sind. Jedes Fellowship umfasste neben der finanziellen Förderung die Teilnahme an zwei zweitägigen Fellow-Treffen sowie an einer öffentlichen Lehr-/Lernkonferenz im Jahr, die dem gegenseitigen Austausch und der persönlichen Weiterentwicklung dienen sollen.

Eine zweite Programmlinie legt seit 2019 einen besonderen Fokus auf digitale Lehr- und Lernformate. Hier arbeitet der Stifterverband mit dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft in NRW (rund 40 Fellowships pro Jahr) und dem Thüringer Wirtschaftsministerium zusammen (sieben Fellowships).

Seminar als interaktives Spiel

Deshalb habe es gutgetan, sich über dieses „Neuland“ auszutauschen. Warum die Lehrveranstaltung so wichtig ist, begründet Uhl so: „Aus Sicht des Ethikers fiel mir bei Lehrveranstaltungen immer wieder auf: Bei den Studierenden gibt es frappierende Empathielücken. Werden Skandale wie etwa der Diesel-Skandal von Volkswagen oder der Wirecard-Skandal aufgedeckt, reagieren sie mit Empörung und Unverständnis.“ Was ihnen aber oft fehle, sei die Vorstellungskraft dafür, wie schnell man selbst in solche Prozesse hineingeraten könne. „Unsere Lehrveranstaltung bediente sich deshalb der Technik der Immersion – also einer interaktiven Spielsituation, die die Studierenden dazu brachte, sich in ein kriminelles Verhalten hineinzusteigern. Andererseits konnte man auch beobachten, wie man selbst und andere plötzlich glaubten, ein gewisses kriminelles Genie in sich zu entdecken.“

Eine weitere Erkenntnis von Schermann und Uhl aus den Fellowtreffen ist: Best Practices anderer Fächer sind durchaus auf das eigene Fach übertragbar, wenn man seine Komfortzone verlässt. Schermann nennt ein Beispiel: „Wir haben die Idee eines Peer-Review-Verfahrens unter den Studierenden aufgegriffen: Die Studierenden lesen dabei die Arbeiten der jeweils anderen und bewerten diese. Das fördert unter anderem das Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten.“

Keine Verstetigung des Lehrkonzepts

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An der TU München selbst fand das Lehrprojekt von Uhl und Schermann Anklang, das Interesse seitens der Kolleginnen und Kollegen sei groß gewesen, sagen beide im Rückblick. Dennoch konnte die Lehrveranstaltung letztlich nicht verstetigt werden. Nach Michael Schermanns Weggang in die USA gab es kein Tandem mehr – adäquater Ersatz für den Wirtschaftsinformatiker fand sich nicht, was beide sehr bedauern. Auch die geplante auf der Lehrveranstaltung basierende Experimentierplattform im Netz ließ sich nicht realisieren. „Jetzt, nach meinem Wechsel an die TH Ingolstadt 2021, gibt es aber durchaus Überlegungen, das Projekt auch an meiner neuen Hochschule zu implementieren. Die kleineren Gruppen dort und das engere Betreuungsverhältnis kommen dem Konzept der Lehrveranstaltung sicherlich sehr entgegen“, zeigt sich Uhl zuversichtlich.

Auch Schermann hat Ideen aus dem „White-Collar Hacking Contest“ mit an die private Santa Clara University genommen, an der er in Kalifornien neben seinem Hauptjob unterrichtet. Er integrierte sie in die Veranstaltung „Financial Information Systems“. Und wie wäre es perspektivisch mit einer gemeinsamen Onlinelehrveranstaltung zwischen Ingolstadt und Santa Clara? Die Covid-19-Pandemie hat ja gezeigt, dass solche Kurse plötzlich das neue Normal sind. Beide lachen. „Klar, ausgeschlossen ist das nicht – wenn wir das mit den neun Stunden Zeitunterschied hinbekommen.“

Was Schermann nach seinen Erfahrungen mit dem Fellowship im Nachgang aber vor allem wichtig ist: „An den Treffen haben so viele Kolleginnen und Kollegen mit ähnlich verrückten Ideen wie der unseren teilgenommen. Man müsste all das schriftlich festhalten. Dann hätte man einen riesigen Katalog der Inspiration für andere Lehrende zusammen.“

 

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