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„Wir haben in unserem Land viele Digitalverweigerer“

X auf Computer-Bildschirm (Foto: iStock.com/PashaIgnatov)
X auf Computer-Bildschirm (Foto: iStock.com/PashaIgnatov)
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Die Pandemie verlangt uns viel ab. Um mal eine positive Nachricht zu hören: Ist der deutsche Mittelstand durch das Social Distancing digitaler geworden, Herr Schwarzer?
Schwarzer: Positiv ist, dass wir branchenübergreifend an die 20 Prozent digitale Vorreiter haben, die ungleich besser durch die Krise kommen. Auf der anderen Seite haben wir leider im Land weit mehr echte Digitalverweigerer, die sinngemäß sagen: Wozu diesen ganzen Online-Unfug, das Internet setzt sich sowieso nicht durch.

Kaum zu glauben! Wie viele sind das?
Schwarzer: Vor der Pandemie waren das bei unseren Befragungen an die 40 Prozent aller deutschen KMU und Steuerkanzleien. Die verbleibenden 40 Prozent wissen zwar, dass sie sich dem Thema Digitalisierung öffnen müssen, finden aber nicht den richtigen Ansatz. Im Krisenjahr haben sie hektisch versucht aufzuholen, was über Jahre hinweg versäumt worden war. Fehlinvestitionen sind da programmiert.

Man digitalisiert das Falsche?
Meyer-Guckel: Man muss die Geschäftsprozesse anfassen und neu denken. Bloß ein paar digitale Tools in interne Abläufe zu integrieren, reicht nicht aus.

Schwarzer: Da legen Sie den Finger in die Wunde, Herr Meyer-Guckel. So ist es. Viele Unternehmen bilden einfach ihre internen Prozesse digital ab. Anschließend glauben sie, man sei in der Branche „digital gut aufgestellt“. Das ist aber leider der falsche Ansatz. Unternehmen müssen sich fragen, wie sie in die Welt, die sie umgibt, hinein vernetzt sind.

Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
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Volker Meyer-Guckel ist stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes und leitet den Bereich Programm und Förderung.

Gäbe es hierzu vielleicht ein anschauliches Bild, Herr Schwarzer?
Schwarzer: In meinen Vorträgen erläutere ich gerne die unterschiedlichen Blickwinkel im Sinne von „Inside-out“ und „Outside-in“. Da sitzt also die Beobachterin oder der Beobachter am Schreibtisch, schaut aus dem Fenster, sieht den Berliner Dom und denkt sich: Ich sehe meinen Markt, meine Kunden und meine Branche klar vor mir – weil ich die Entfernung von meinem Fenster bis zum Dom auf den Millimeter genau kenne, genauso wie die exakte Zusammensetzung der Dombausteine, die Namen der Baumeister und sogar das Verfallsdatum der Feuerlöschanlage im Inneren. Ich kenne meinen Markt bestens – da macht mir niemand etwas vor.

Das ist die Inside-out-Perspektive, die wir Deutschen so gut beherrschen?
Schwarzer: Ja. Sie ist aber trügerisch: Denn die Kunden sitzen in Wirklichkeit im Helikopter über dem Geschehen. Und von dort aus überblicken sie ganz Berlin, verlieren den Dom also schnell aus den Augen. Stattdessen schweifen die Blicke über die riesige Stadt, die vernetzt ist, Infrastruktur hat, die in Bewegung ist, hier und da neue Gebäude bekommt und an deren vernetzter Struktur unglaublich viele mobile Wesen teilhaben. Das ist „Outside-in“ – die Perspektive, die Unternehmen bei der digitalen Transformation unbedingt einnehmen sollten.

Meyer-Guckel: Ein eindrückliches Beispiel für das, was Sie gerade beschreiben, Herr Schwarzer, ist mir heute Morgen auf dem Weg zur S-Bahn begegnet: ein Werbeplakat mit dem Slogan „Warum soll ich mich als kranker Mensch zum Arzt aufmachen, um dort zu erfahren, dass ich mich wieder ins Bett begeben soll?“. Absender ist eine Onlineapotheke, die sich jetzt offenbar als Plattform erweitern will, eine Art digitales Ärzteforum, wo Patienten ärztliche Beratung per Video bekommen und das E-Rezept gleich mit dazu. Es könnte sein, dass hier zukünftig nicht nur das deutsche mittelständische Apothekertum bedroht ist, sondern Teile unseres Ärzte- und Krankenkassensystems gleich mit abgeräumt werden sollen. Das sind immerhin Player und Institutionen, die bislang noch jeder Reform trotzen konnten. Jetzt kommt ein neuer Akteur des Weges und denkt zusammen, was Patienten schon lange stört: volle Wartezimmer, Rezept abholen, in der Apotheke anstehen ...

... während einer Pandemie wohlgemerkt, wo all das noch viel anstrengender ist. Das dürfte dieser neuen Plattform Rückenwind geben.
Schwarzer: Und dieser Wind bläst Richtung digitale Transformation, ohne Frage. Wenn man sich überlegt, die Ärzteschaft hat sich über Jahrzehnte geweigert, am Telefon medizinische Patientengespräche und -beratung durchzuführen – das war des Teufels! In den letzten zwölf Monaten hat es seltsamerweise funktioniert.

Bleiben wir noch einen Moment bei den KMU: Warum tun sie sich mit der digitalen Transformation schwer?
Schwarzer: Ihnen fehlt die digitale Kompetenz! Ich meine das nicht despektierlich oder abwertend. Heute ist schlichtweg etwas vonnöten, was vor wenigen Jahren noch nicht relevant war.

Eckhard Schwarzer sitzt auf einem Bürostuhl (Foto: DATEV eG)
Eckhard Schwarzer sitzt auf einem Bürostuhl (Foto: DATEV eG)
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Eckhard Schwarzer ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der DATEV eG und Vorsitzender der DATEV Stiftung Zukunft, die sich als Projektpartner im Netzwerk Data Literacy Education des Stifterverbandes engagiert.

Meyer-Guckel: Wir haben ein massives Weiterbildungsproblem. Der Facharbeiter, der eben noch Vergaser zusammengeschraubt hat, muss jetzt mit Mobilitätsdatensystemen umgehen. Und dieses herausfordernde Reskilling betrifft nicht bloß einzelne Unternehmen, sondern die ganze Branche. Denken wir an „Outside-in“, den Blick aus dem Hubschrauber: Plötzlich ist die Autobranche mit vielen neuen Prozessen vernetzt – Autos kommunizieren mit dem Internet der Dinge, mit Ladestationen, mit dezentraler Energieversorgung. Diese Komplexität ist neu, ungewohnt. Man hat es nicht mehr mit „einem Problem meiner Industrie“ zu tun. Man hat es mit „einem großen vernetzten Miteinander“ zu tun.

Wie kann dieses massive Reskilling unter Zeitdruck gelingen?
Meyer-Guckel: Die einzelne regionale Hochschule, mit der man als KMU immer gut kooperiert hat, kann momentan nur bedingt helfen. Wir sollten Weiterbildung jetzt viel stärker in Vernetzungsplattformen und Verbundstrukturen denken. In diesem Bewusstsein sind aber weder die deutschen Bildungseinrichtungen noch die KMU.

„Wir müssen weg von dem Irrglauben, Data Literacy sei lediglich ein Thema für Computernerds. ”

Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
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Volker Meyer-Guckel

Wird das ausreichen? Herr Schwarzer, Sie sprachen eben die fehlende digitale Kompetenz an. Man bezeichnet sie als Data Literacy – ein sperriger Begriff, der vielen erst wenig sagt.
Schwarzer: Ich muss gestehen, bevor wir uns dem Programm des Stifterbandes gewidmet haben, war mir dieser Terminus auch nicht geläufig.

Was meint dieser Begriff genau?
Schwarzer: Data Literacy steht, wie gesagt, im weitesten Sinne für Datenkompetenz. Was der Einzelne darunter versteht – dazu herrscht in unserer Gesellschaft tatsächlich noch eine babylonische Sprachverwirrung: in der Digitalpolitik, im Bildungssektor, in der Weiterbildung, in der Wirtschaft.

Der Stifterverband spricht von „einer grundlegenden Kompetenz“, die man braucht, um in der digitalen Welt in Wissenschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft bestehen und teilhaben zu können.
Meyer-Guckel: Genau. Data Literacy ist die Fähigkeit, planvoll mit Daten umzugehen. Man lernt, wie man sie im jeweiligen Kontext bewusst einsetzen und hinterfragen kann. Also die ganze Bandbreite: Wie man Daten erfasst, erkundet, managt, kuratiert, analysiert, visualisiert, interpretiert, kontextualisiert, beurteilt und anwendet.

„Wenn ich als Unternehmer bloß meinen IT-Beauftragten fortbilde, dann habe ich schon verloren. Data Literacy ist wirklich so etwas wie das neue Rechnen, Lesen und Schreiben. ”

Eckhard Schwarzer (Foto: DATEV eG)
Eckhard Schwarzer (Foto: DATEV eG)
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Eckhard Schwarzer

Wenn man das jetzt alles zusammendenkt: Was sind in der Data-Literacy-Education die nächsten wichtigen Schritte?
Meyer-Guckel: Wir müssen weg von dem Irrglauben, Data Literacy sei lediglich ein Thema für Computernerds.

Schwarzer: Absolut. Wenn ich als Unternehmer bloß meinen IT-Beauftragten fortbilde, dann habe ich schon verloren. Data Literacy ist wirklich so etwas wie das neue Rechnen, Lesen und Schreiben. In den zahllosen Familienunternehmen muss deshalb vor allem auf den Chefetagen dringend nachgebessert werden – es sei denn, der IT-Leiter soll zukünftig das Businessmodell des gesamten Unternehmens neu denken!

Meyer-Guckel: Jeder Hochschulabsolvent sollte Data Literacy beherrschen, aber auch jeder Bürger sollte sich zumindest in den Grundzügen damit auskennen.

In Ihrem gemeinsamen Netzwerk Data Literacy Education fließt gerade die Kompetenz aus 24 deutschen Hochschulen zusammen, um die Frage zu beantworten, wie Data Literacy flächendeckend in alle möglichen Disziplinen integriert werden kann.
Meyer-Guckel: Ja, das sind die Vorreiter, allesamt Hochschulen, die Data Literacy bereits in ihre Organisations- und Curriculumsentwicklung zentral einfließen lassen. Dort werden die Diskussionen, wie Data Literacy an jeden Studierenden vermittelt werden kann, schon flächenübergreifend geführt.

Schwarzer: Sie haben alle bereits Beachtliches auf diesem Gebiet geleistet. Die Universität Lübeck beispielsweise war vor einigen Jahren noch eine rein medizinische Universität. Man entschied sich gegen einen eigenen Informatiklehrstuhl und integrierte stattdessen Data Literacy in bestehende Curricula. Diese erfolgreiche Synthese von Medizin und Informatik zeigt eindrücklich, wie interdisziplinär das Thema Data Literacy ist. 

Sollten jetzt alle Bildungsträger und Wissensdisziplinen gemeinsam mit den Akteuren der Gesellschaft diskutieren, welche Lehrangebote genau gebraucht werden?
Meyer-Guckel: Definitiv, dann wären wir einen riesigen Schritt weiter! Unsere Data-Literacy-Education-Initiative, die wir gemeinsam mit der DATEV-Stiftung realisieren, zielt genau auf einen solchen interinstitutionellen Diskurs ab.

Schwarzer: Wir müssen raus aus dieser babylonischen Sprachfalle, dass alle aneinander vorbeireden. Das ist vielleicht das Größte, was die Initiative leisten kann: Wir können und dürfen nicht länger nur eine Perspektive einnehmen. Vielmehr bedarf es eines stetigen Perspektivwechsels und wir brauchen das Zusammenspiel unterschiedlicher Branchen, des Bildungswesens und der Politik. Wir wollen mit der Initiative endlich für eine themenübergreifende und institutionsübergreifende Sichtweise sorgen.

Meyer-Guckel: Unsere im Januar initiierte Data-Literacy-Charta ist hierfür ein wichtiger Meilenstein. Wichtig war uns, dass diese Charta im Einklang mit der Datenstrategie der Bundesregierung und der Berliner Erklärung zur Digitalen Gesellschaft steht.

(Logo: Stifterverband)
(Logo: Stifterverband)
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Data-Literacy-Charta

Gemeinsam mit zahlreichen Partnern hat der Stifterverband im Januar 2021 die Data-Literacy-Charta initiiert. Mit ihr wird ein gemeinsames Verständnis von Datenkompetenzen und deren Bedeutung für Bildungsprozesse formuliert. Die Charta steht im Einklang mit der Datenstrategie der Bundesregierung und mit der Berliner Erklärung zur Digitalen Gesellschaft.

Wollen auch Sie die Charta unterzeichnen? Weitere Informationen gibt es hier: www.stifterverband.org/charta-data-literacy

Die Stifterverbands-Charta fasst die wichtigsten Punkte zusammen und definiert Leitprinzipien. Wie hoch sind Ihre Erwartungen?
Meyer-Guckel: Unsere Charta wird die Welt nicht revolutionieren. Aber wenn wir jetzt tatsächlich gemeinsam in so etwas wie eine nationale Bewegung kommen, wobei unsere Charta sicher mithelfen kann, dann haben wir ein wichtiges Etappenziel erreicht.

Schwarzer: Ich denke auch: Das wäre ein großer und wichtiger Schritt in Richtung Zukunft.

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