Future Skills

Apps auf Rezept

Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
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Ein Hauch, einen Sekundenbruchteil nur, und das Smartphone schlägt Alarm: Der junge Mann, der gerade in das per Bluetooth verbundene Plastikröhrchen gepustet hat, sieht die Funktionswerte seiner Lunge auf dem Display. Die Linie auf dem Bildschirm ist abgesackt, die Daten zum Atemfluss im roten Bereich. Deutet E das auf eine Verengung der Bronchien hin? Die ausreichende Versorgung des Körpers mit Sauerstoff wäre gefährdet. Der junge Mann hat gelernt, was in solch einem Fall zu tun ist: Er drückt den Kontakt-Button auf dem Bildschirm, um sich mit einem Lungenfacharzt zu verbinden.

An diesem Tag sitzt allerdings kein Facharzt am anderen Ende der Leitung, sondern eine Gruppe Studierender, die sich über ein Notebook mit den Messwerten beugt. Und der vermeintliche Patient ist auch nicht wirklich krank. Dennoch diskutieren die Medizinstudierenden sehr ernsthaft und recht realitätsnah die Behandlungsoptionen: Reicht es, die Medikamentendosis zu erhöhen? Oder müsste der Patient schnell in die Praxis kommen?

Medizin im digitalen Zeitalter

„Wir simulieren hier ein Szenario, das längst keine Zukunftsmusik mehr ist“, erklärt der Unfallchirurg Sebastian Kuhn, der an der Universität Mainz die Lehrveranstaltung Medizin im digitalen Zeitalter“ leitet. Denn bei der Betreuung chronisch Kranker kommen solche Verfahren schon heute zum Einsatz. „Wir verschreiben heute Apps auf Rezept“, sagt Kuhn und meint damit Apps wie SaniQ Asthma. Mit ihr können Patienten eigenständig Daten erheben – wie etwa zum Peak Flow, der maximalen Geschwindigkeit, mit der sie Luft ausatmen können.

Auch andere, die Lungenfunktion beeinflussende Faktoren wie etwa der Pollenflug oder Wetterbedingungen werden von der Anwendung registriert. Dazu führt der Lungenpatient ein elektronisches Tagebuch. Die Daten kann er mit einem Klick an den behandelnden Spezialisten übermitteln. Dank der grafischen Aufbereitung des Krankheitsverlaufs sieht der Arzt auf einen Blick, wo und ob es (Be-)Handlungsbedarf gibt. Auf diese Weise konnten bereits etliche Notfälle verhindert werden, da Ärzte problematische Werte rechtzeitig bemerkten und medikamentös gegensteuern konnten.

Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
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Der Unfallchirurg Sebastian Kuhn hat an der Universität Mainz eine neuen Lehrveranstaltung für Mediziner im digitalen Zeitalter entwickelt.

Doch nicht bei jedem Arzt ist es gern gesehen, dass sich Patienten digitale Werkzeuge zunutze machen und etwa nach einer Internetrecherche ihrer Symptome in die Praxis kommen. „Einer Studie zufolge lehnt dies mehr als die Hälfte der befragten Ärzte eher ab. Wartet ein Patient mit so einer Google-Diagnose auf, dann ist  schon nach einer Minute das Vertrauensverhältnis gestört“, erklärt Sebastian Kuhn. Hier zeigt sich: Die überwiegende Mehrheit der Mediziner reagiert auf die digitalen Herausforderungen des Arztberufs entweder mit einer Vogel-Strauß-Haltung oder mit einer Ablehnung, die sich aus einer schlechten Informationslage speist. „Ich kann nicht verstehen“, sagt Kuhn ungehalten, „dass manche ignorieren, was um sie herum passiert.“ Der Mainzer Unfallchirurg ist deshalb zum Motor für die digitale Medizin in Deutschland geworden.

Mit seiner Arbeit versucht er gezielt, die neue Generation von Medizinern zu erreichen, die angesichts der anstehenden digitalen Transformation „nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern den fundamentalen Wandel des Arztberufs aktiv gestalten soll“. Für sie hat Sebastian Kuhn das Wahlpflichtfach „Medizin im digitalen Zeitalter“ entwickelt, mit dem Studierende fit für die digitale Zukunft des Heilberufs gemacht werden sollen. Die Lehrveranstaltung, die seit Mai 2017 jedes Semester angeboten wird, widmet sich den Zukunftsfragen eines mehr und mehr digitalisierten Gesundheitswesens: Wie wandelt sich die Arzt-Patienten-Kommunikation, wenn sie zunehmend online und über soziale Netzwerke stattfindet? Welche medizinischen Apps und smart devices lassen sich zur Diagnose und Behandlung einsetzen? Welche Chancen und Risiken birgt die Telemedizin für Disziplinen wie Radiologie oder Notfallversorgung? Wie lassen sich Operationen mithilfe von Virtual und Augmented Reality besser planen und ausführen? Und schließlich: Welche Veränderungen bringt der Einsatz von Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI) für das Gesundheitssystem?

Kuhns einwöchiges Lehrformat unterscheidet sich dabei von eng getakteten und streng durchstrukturierten Lehrveranstaltungen. Openness, Offenheit ist hier die Maxime. Praktiker wie Fachärzte und App-Entwickler, aber auch Psychologen und Datenschützer erkunden gemeinsam mit den Studierenden die Möglichkeiten der „Medizin 4.0“ – etwa in OP-Simulationen oder bei Video-Sprechstunden mit realen Patienten. „Wenn wir zusammen im Raum sind, wollen wir diese neue digitale Medizin hands on erleben“, sagt Kuhn.

Sebastian Kuhn bei der Preisverleihung (Foto: Peter Himsel)
Sebastian Kuhn bei der Preisverleihung (Foto: Peter Himsel)
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Förderprogramm Curriculum 4.0

2016 wurde Sebastian Kuhn für sein Projekt Medizin im digitalen Zeitalter im Förderprogramm Curriculum 4.0 ausgezeichnet. Mit dem Förderprogramm unterstützten Stifterverband und Carl-Zeiss-Stiftung bis 2018 insgesamt zwölf Hochschulen bei der Fortentwicklung ihrer Studiengänge. Ausgezeichnet wurden herausragende Konzepte, die aufzeigen, wie Studiengänge den Anforderungen einer digitalen Welt besser entsprechen können, sei es durch neue Studieninhalte oder durch neue Studien- und Lernformen. 

 

Weitere Infos zum Wettbewerb und den ausgezeichneten Hochschulen

Mediziner als Coach eines mündigen Patienten

Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
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Begriffe wie opennness, digital makerspace, blended learning, testimonials oder collaboration sind dabei mehr als modisches Wortgeklingel. Sie stehen für eine innovative didaktische Herangehensweise. Statt Fakten im Frontalunterricht vermittelt zu bekommen, erarbeiten die Medizinstudierenden Inhalte gemeinsam, mit ihrem Dozenten, mit Patienten oder mit externen Experten. In dieser Herangehensweise spiegelt sich auch wider, dass sich die Rolle von Medizin und Medizinern ändert. „Der Arzt ist dann dank der Digitalisierung nicht mehr der Halbgott in Weiß, der einem armen Kranken Anweisungen gibt. Sondern der Begleiter oder Coach eines mündigen Patienten“, sagt Kuhn.

Die Übung mit der Lungenfunktions-App zum Beispiel sensibilisiert die angehenden Ärzte für ihr sich veränderndes Berufsbild: wenn sie reihum in die Rolle des Patienten schlüpfen und die Technologie dadurch auch von der anderen Seite erleben. Wenn reale Patienten versichern, die Behandlung via Smartphone habe ihr Leben verändert. Wenn die Entwickler der App Auskunft über die Funktionsweise ihrer Algorithmen geben. Oder wenn in einer Diskussion nicht nur die Vorteile einer effizienteren Behandlung von Lungenleiden zur Sprache kommt, sondern auch die möglichen Nachteile solcher technologischer Lösungen – etwa der Verlust des persönlichen Kontakts zwischen dem Doktor und einem Kranken, der mit seinen Ängsten und Sorgen als Person wahr- und ernst genommen werden will.

Vermittlung einer neuen medizinischen Kulturtechnik

Die Lehrformate, die Sebastian Kuhn zurzeit mit einer Projektgruppe entwickelt, sind auf Dialog und Diskussion angelegt. Die Studierenden teilen ihre Erkenntnisse miteinander über ein E-Book, das nach Ende des Kurses als Ausgangspunkt für die Kommilitonen des folgenden Semesters dient. Das zeigt: Das Seminar will weniger einen feststehenden Kanon, sondern vielmehr eine Art medizinischer Kulturtechnik vermitteln. „Es geht darum, die eigene Haltung kritisch zu reflektieren, sich selbst zu verorten in einem Beruf.“

Es ist eine Herangehensweise, die gewisse Analogien zur Domäne von Sebastian Kuhn, der Notfallmedizin, aufweist: In einem unsicheren Umfeld Informationen zu generieren, um schnell die bestmögliche Entscheidung treffen zu können. Dass dies für seine angehenden Ärzte eine Herausforderung, ja zuweilen eine Zumutung ist, räumt Kuhn ein: Ein Chatbot-Programm wie Ada Health, das die Patienten mit ihren strukturierten Fragen durch die Anamnese leitet und in manchem Fall eine bessere Diagnose schafft als der Arzt allein, stelle die ärztliche Autorität durchaus infrage. Ebenso wie Programme, die mittels Künstlicher Intelligenz die Behandlungen des vermeintlich unfehlbaren Arztes im Hintergrund auf mögliche Fehler abklopfen. „Schon in fünf bis sieben Jahren dürfen grundlegende Entscheidungen nicht mehr ohne ein Gegenprüfen durch die KI getroffen werden“, vermutet der Unfallchirurg und Orthopäde.

Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
Sebastian Kuhn (Foto: Angelika Zinzow)
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In den Lehrveranstaltungen von Sebastian Kuhn teilen die Studierenden ihre Erkenntnisse miteinander über ein E-Book.

Mehr Offenheit für digitale Technik

Die Studierenden, die Sebastian Kuhns deutschlandweit einmalige Lehrveranstaltung besuchen, sollen auf solche Entwicklungen nicht mit Kränkung reagieren, sondern mit grundsätzlicher Offenheit. Dies könne aber durchaus auch zu einer wohlinformierten Ablehnung technologischer Werkzeuge oder Praktiken führen – etwa bei Gesundheits-Apps. 380.000 davon gebe es, „99 Prozent davon sind für den Mülleimer. Die wollen vor allem die Daten der Nutzer ausspionieren.“ Ein Wildwuchs, der entstehe, wenn sich die Medizin das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lasse. Die problematischen Folgen der Entwicklung beobachtet Sebastian Kuhn in der klinischen Praxis: „Dort hat sich WhatsApp als kommunikativer Standard etabliert.“ Ärzte schicken sich darüber Bilder, bei denen es darum gehe, ob die Therapie eines Krebspatienten eingestellt werde – oder eine Notfall-OP stattfinde. Die Rechte an diesen Bildern mit intimen Patienteninformationen gehören WhatsApp, betont der Mainzer Mediziner. Sensible Daten speichere das Unternehmen im Ausland – unklar bleibe, wer wo letztendlich Zugriff darauf hat. Ein Bruch der ärztlichen Schweigepflicht, „auch eine fundamentale Verletzung der Privatsphäre“, sagt Kuhn. Und fügt hinzu: „Hier müssen wir für adäquate, datenschutzkonforme Lösungen sorgen.“

Wenn die angehenden Ärzte seines Seminars die digitale Transformation aktiv gestalten, führe dies keinesfalls zu einer Entmündigung oder einem Verlust der Autonomie des Arztes: Richtig angewandt, könnten die digitalen Assistenzsysteme die Mediziner künftig entlasten für die wirklich wichtigen Aufgaben, glaubt Sebastian Kuhn. „Sehen, hören, fühlen, tasten und mit den Patienten kommunizieren: Basale Fähigkeiten des Arztberufs, die in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt worden sind, werden in den nächsten zehn Jahren wieder eine ganz große Bedeutung bekommen.“

Patrick Neubert (Foto: Damian Gorczany)
Patrick Neubert (Foto: Damian Gorczany)
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Serie „Weiter.Denker“

Die Digitalisierung verändert die Art, wie wir arbeiten. Doch sind wir darauf vorbereitet? Welche Kompetenzen müssen wir dafür mitbringen und wie vermitteln wir diese? Wie müssen wir Bildung, Wissenschaft und Innovation weiterdenken, um wirtschaftlich, technologisch und gesellschaftlich nicht den Anschluss zu verlieren. In der Reihe „Weiter.Denker“ stellen wir Personen vor, die bereits vorbildliches leisten, die weiterdenken und versuchen, unsere Zukunft aktiv zu gestalten.

Lesen Sie hier alle „Weiter.Denker“-Porträts

Dieser Beitrag erschien zuerst in: CARTA 2020 - Wieder mal moderne Zeiten

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