Chancengerechtigkeit

Weltoffen oder verschlossen?

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(Foto: Alexander vom Humboldt Stiftung)
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Als sie durch seine Straße marschieren, beobachtet Athaydes Leite sie vom Fenster seiner Wohnung im zweiten Stock aus, verborgen hinter einem Vorhang. Auch das Licht hat der 26-jährige Brasilianer zur Sicherheit ausgemacht. Manche der Legida-Demonstranten tragen Fackeln, ihre Sprechchöre erfüllen die Leipziger Nacht, die Stimmung ist aufgeheizt an diesem Montagabend im Jahr 2015. Athaydes Leite ist mulmig zumute. Seit sechs Jahren lebt der Ingenieur in Deutschland, seit vier Jahren forscht er am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig im Bereich Biogas. Diskriminierung und Vorurteile hat er zwar manchmal erfahren, aber meist nur im Verborgenen und indirekt. So etwas wie jetzt jedoch hat er noch nicht erlebt.

In Ostdeutschland scheint in der jüngsten Vergangenheit die Stimmung gegenüber Ausländern vielerorts zu kippen. Den Anfang machten die montäglichen Demonstrationen von Pegida und ihren Ablegern, die Ende 2014 begannen und spätestens 2015 auch international bekannt wurden. Die Flüchtlingskrise hat die Situation weiter verschärft. Busse mit Flüchtlingen werden blockiert, die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsheime ist im Jahr 2015 in Deutschland auf 924 geschnellt, ein Großteil davon wurde in Ostdeutschland verübt. Drei Jahre zuvor waren es noch 23 Anschläge. Am 13. März 2016 kam die fremdenfeindliche Stimmung schließlich auch in einem der Landesparlamente an. Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt wurde die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) auf Anhieb zweitstärkste Kraft, jeder vierte Wähler gab ihr seine Stimme.

Auswirkungen auf den Wissenschaftsstandort

Was bedeutet das für die Ausländer, die an Ostdeutschlands Universitäten und Forschungsinstituten studieren und arbeiten? Und wie beeinflusst die derzeitige Situation diejenigen, die überlegen, hierherzukommen?

Die erste Station auf der Suche nach Antworten ist das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. „Auf Dienstreisen werde ich natürlich gefragt, was es mit den jüngsten Ereignissen auf sich hat. Aber das geschieht eher aus Interesse. Ich habe noch nicht gehört, dass jemand wegen der jüngsten Entwicklungen ein Bewerbungsgespräch abgesagt oder das UFZ deshalb verlassen hat“, sagt Heike Graßmann, administrative Geschäftsführerin des UFZ in Leipzig. Noch lässt sich nicht abschätzen, welche Auswirkungen diese Ereignisse auf den Zuzug und Weggang von ausländischen Forschern und Studierenden tatsächlich haben. Bislang deutet nichts darauf hin, dass die neue Situation die Wanderungsbewegung ausländischer Akademiker beeinflussen würde. „Stabile 15 Prozent unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stammen aus dem Ausland, und ich denke, sie fühlen sich wohl“, sagt Heike Graßmann.

Diskriminierung im Alltag

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Athaydes Leite (Foto: privat)
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Athaydes Leite ist einer von ihnen. Ja, er fühle sich im UFZ sehr wohl, sagt er. Auch im Privatleben überwiegen bei Weitem die guten Erfahrungen. Lange Zeit hat er in einer Wohngemeinschaft ausschließlich mit Ostdeutschen zusammengewohnt. „Es war super! Meine Mitbewohner sind sehr nett und sympathisch gewesen, wir hatten eine tolle Zeit“, sagt Leite. Auf der Straße und an der Kasse im Supermarkt hingegen hat er schon Diskriminierungen erlebt. Weil er vorsichtig ist, gab es keine ernsthaften Vorfälle. Er hört immer mal wieder, dass jemand wegen seiner Herkunft zusammengeschlagen wurde. Auch im letzten Jahr konnte er beobachten: Die Mehrheit der Menschen hier öffnet sich weiter. Nur ein paar wenige verschließen sich. Letztere jedoch bestimmten vor allem im vergangenen Jahr das Geschehen. „Dieser Montagabend, als sie zum ersten Mal an meiner Wohnung vorbeimarschierten, war der Tiefpunkt. Danach hat man sich ein wenig daran gewöhnt“, sagt Leite. Trotzdem gehen er und die meisten seiner ausländischen Kollegen bis heute jeden Montag am frühen Nachmittag nach Hause.

Die Demonstrationen in ihrer Wirkkraft scheinen sich auf wenige Zentren wie Dresden und Leipzig zu konzentrieren. Seit Kurzem gehört offenbar auch Magdeburg dazu. „In Magdeburg waren die Entwicklungen insbesondere vor der Landtagswahl sehr besorgniserregend“, sagt die Französin Anne Lequy, Rektorin der Hochschule Magdeburg-Stendal. Dabei hätte Magdeburg eher gegenteilige Botschaften dringend gebrauchen können. „Die Anwerbung ausländischer Lehr- und Führungskräfte war ohnehin schon schwierig“, sagt Lequy. Einer der Gründe: Magdeburg sei sehr homogen, wenige Zugezogene, viele Alteingesessene.

Fremdes wird vertraut

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Anne Lequy (Foto: Hochschule Magdeburg-Stendal/Harald Krieg)
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„Wenn man da manchmal auf Angst bei den Magdeburgern stößt, dann normalerweise nicht, weil die Menschen hier rechts sind oder etwas gegen Ausländer haben, sondern weil sie auf das, was sie nicht kennen, nun einmal zunächst ängstlich oder abwehrend reagieren“, sagt Lequy. Sie glaubt daher an das scheinbare Paradox, dass mehr Ausländer die Integration nicht unbedingt erschweren, sondern eher fördern können. „Weil die Menschen sich eher begegnen. Das Fremde wird vertrauter.“ 

Vonseiten der Hochschule Magdeburg-Stendal versucht man die Begegnungen bewusst zu fördern, etwa durch internationale Sportturniere und Länderabende, an denen ausländische Studenten von ihrer Heimat erzählen. Das Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik (Fraunhofer IWS) in Dresden hat die „Wissenschaftsinitiative Integration“ aufgelegt, die es Flüchtlingen mit einem technischen Hintergrund ermöglicht, mehrmonatige Praktika im Fraunhofer IWS zu absolvieren.

Viele Vorurteile

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Vasilena Dimitrova (Foto: privat)
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Doch auch ohne solche Projekte sind die Universitäten und Forschungsinstitute weltoffene Inseln. Das kann Vasilena Dimitrova aus Bulgarien bestätigen, die 2012 nach Halle gekommen ist und dort heute Politikwissenschaft und Anglistik studiert. „Viele deutsche Studenten sind während der Hochphase von Pegida dauernd zu Gegendemonstrationen gefahren, und das in riesiger Zahl“, sagt Dimitrova. Außerhalb der Universität aber begegnet sie eben immer noch vereinzelt Vorurteilen. „Wenn ich zum Beispiel irgendwo sage, dass ich aus Bulgarien komme, dann denken die meisten offenbar erst einmal, ich sei ein Armutsflüchtling“, sagt Dimitrova. „Wenn ich dann sage, dass ich hier studiere, dann sind die Menschen erstaunt. Es kommt einem so vor, als seien sie überrascht, dass aus Bulgarien auch Menschen nach Deutschland zum Studieren kommen.“ Einmal wurde sie auch schon dreist diskriminiert. Eine Agentur für Hostessen für Messen hat Dimitrova eines Tages rausgeworfen mit der Begründung, sie passe nicht ins Team. Warum nicht? Weil sie exotisch aussehe, eben nicht deutsch.

Am Scheidepunkt

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Melvin Kome (Foto: privat)
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Noch viel deutlicher sieht man Melvin Kome an, dass er nicht aus Deutschland stammt. Durch seine Hautfarbe fällt er schon von weitem auf: Melvin Kome stammt aus Kamerun in Zentralafrika. Seit 2005 lebt er in Freiberg, einer sächsischen Kreisstadt zwischen Dresden und Chemnitz. Bekannt ist sie vor allem durch die Technische Universität Bergakademie Freiberg, an der Kome bis 2011 studiert hat und seitdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bohrtechnik und Fluidbergbau (IBF) arbeitet. Wie tief greifend sich Freiberg und die Haltung der Menschen gegenüber Ausländern verändert, beobachtet Kome somit schon seit einem Jahrzehnt. Als er 2005 in Deutschland ankam, fühlte er, dass die Menschen einen gewissen „Sicherheitsabstand“ ihm gegenüber einhielten, sogar an der Universität. Kaum jemand feindete ihn offen an, aber das lag auch daran, dass er vorsichtig war. „Vor zehn Jahren gab es manche Viertel in Freiberg, die man als Farbiger besser nicht betreten sollte“, sagt Kome. Mit der Situation von heute lässt sich das nicht vergleichen. Kome wohnt inzwischen in einem der Viertel, die er früher gemieden hat. Er lehrt an der Universität, und das ist für alle Studierenden und Kollegen selbstverständlich.

Doch seit einem Jahr brodelt es, seit der Flüchtlingskrise und dem Zulauf für Pegida und die AfD. Noch habe sich in Freiberg nichts groß verändert, sagt Kome. „Aber wir stehen an einem Scheidepunkt: entweder wirklich weltoffen werden oder sich wieder mehr verschließen.“ Wie Lequy glaubt auch Melvin Kome, dass die intuitive Angst vor dem Fremden eine wichtige Rolle spielt. Die wurde vielerorts in Ostdeutschland durch die Einquartierung von Flüchtlingen noch geschürt. An dieser Situation und der Stimmung, die den Flüchtlingen entgegenschwappt, wird der Scheidepunkt besonders deutlich. Die Flüchtlinge können eine Bedrohung sein – oder zur Chance werden.

Kippt die Stimmung?

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Saddam Weheabby (Foto: Privat)
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Saddam Weheabby aus Jordanien, seit April 2014 Doktorand an der Technischen Universität Chemnitz am Lehrstuhl für Anorganische Chemie, fühlte sich bei seiner Ankunft von Anfang an willkommen. Erst als im vergangenen Jahr die Flüchtlingskrise begann, spürte er, wie sich die Stimmung gegenüber Ausländern anfangs etwas verschlechterte. „Ich hatte keine Angst, aber ich habe mir Sorgen gemacht, in welche Richtung sich das entwickelt“, so Weheabby. Es hätte leicht kippen können, aber es ist nicht gekippt. „Inzwischen ist im Grunde alles wieder wie vorher. Das liegt auch daran, dass sich die Menschen einfach aneinander gewöhnt haben.“

Diese Erfahrung hat auch Kome gemacht. Die afrikanische Gemeinde in Freiberg organisiert Übersetzungen für afrikanische Flüchtlinge und Material – sowie Begegnungen mit den Bewohnern Freibergs. „Man spürt bei vielen Treffen förmlich, wie aus Zurückhaltung und Misstrauen nach einer gewissen Zeit Zuwendung und Vertrauen werden“, sagt Kome. Oft haben sich die positiven Erfahrungen auch weiter verbreitet unter anderen Freibergern, wie ein Lauffeuer. Doch auch die Zahl der Teilnehmer der Pegida-Demonstrationen wuchs anfangs rasend schnell. Wie sich die Situation für Ausländer in Ostdeutschland entwickeln wird, ist noch ganz offen.

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