Lehrermangel

Kindheit 2.0 - Wo und wie Kinder heute lernen

Kinder entdecken in der Natur
Naturforscher bei der Arbeit (Foto: iStock/Imgorthand)
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Kindheit und Lernen 2.0. Folgt nach dem Pisa-Schock durch neue digitale Medien- und Lernwelten nun die digitale Demenz, wie es Gehirnforscher Manfred Spitzer prognostizierte?
Spitzers Aussage passt hervorragend als Schlagzeile in die Bildzeitung und wir leben in einem Zeitalter, in dem populärwissenschaftliche Aussagen viel Nachklang erzeugen. Die Medienwelt liebt es, wenn Studien auf einige wenige Schlagworte reduziert werden können, wenn deren Fazit also auf dem Silbertablett serviert wird, insbesondere wenn dieses Fazit negativ ausfällt. Da heißt es dann: Medienkonsum führt zu Unkonzentriertheit oder unsere Kinder werden durch die neuen Medien immer gewalttätiger, ängstlicher, einsamer, dicker oder eben dement. Empirische Studien, die ein viel differenzierteres und breiteres Bild der Wirklichkeit offenbaren, sind da im Vergleich zu langweilig und werden per Mausklick schnell in den redaktionellen Mülleimer befördert. Ich will nicht sagen, dass die digitale Welt nur Gutes hervorbringt. Ich möchte aber davor warnen, nur die negativen Auswirkungen derart in den Vordergrund zu stellen.

Sie selbst haben vor einigen Jahren den Begriff Generation Flatrate geprägt – und es bitter bereut.
Schlagworte, die den Kulturpessimismus weiter befeuern, führen sozusagen irgendwann ein Eigenleben, das schnell zu einem immer schieferen Bild der Wirklichkeit führen kann. Ich wollte mit dem Begriff vor einigen Jahren das Lebensgefühl einer Generation beschreiben, die den Flatrate-Gedanken in allen möglichen Lebensbereichen verinnerlicht hat. Dies wurde dann von den Medien als Negativ-Zerrbild verwandt, das Positive fand keinen Platz mehr und wenn ich versuchte, eine differenzierte Perspektive in den Diskurs einzubringen, waren die Rezipienten vielfach enttäuscht, da sie eine Abrechnung mit der Kindheit und Jugend von heute erwartet hatten.

Werden Kinder und Jugendliche noch zu wenig gehört, wenn es um Aussagen über deren Lebens- und Lernwelten geht?
Ich denke, wir sind da schon ein großes Stück vorangekommen. Wissenschaftler befragen die junge Generation durchaus intensiv, aber deren Aussagen fallen im medialen Rauschen nicht weiter auf, weil sie eben oft nicht empörend sind, sondern eher normal, unaufgeregt und realistisch. Kinder können ihre Lebenswelten sehr präzise einschätzen und bewerten – dazu bedarf es keiner Erwachsenenmaßstäbe.

Welche schiefen Bilder gibt es noch von der heutigen Kindheit?
Dass Kinder heute völlig anders aufwachsen als noch vor 20, 30, 40 Jahren. Viele Kinder spielen immer noch gerne draußen, sie suchen sich immer noch Freunde in der Nachbarschaft und bauen Staudämme, sie lesen auch weiter Bücher. Gewiss gibt es hier regionale und milieuspezifische Differenzen. Aber wenn man Kinder befragt, was ihnen am wichtigsten ist, antworten sie mehrheitlich nicht Spielkonsole, Smartphone oder Ballerspiele, sondern Freunde. Und diese Freunde treffen sie oft und gerne offline, auch wenn sie dann in ihrer Peer-Group natürlich auch intensiv über digitale Medien miteinander kommunizieren. 

Aktuell wird viel über Helikoptereltern gesprochen, die ihren Nachwuchs nicht mehr aus den Augen lassen und Lehrkräfte drangsalieren.
Auch hier haben wir es eher mit einem Schlagwort zu tun, das enorme Medienpräsenz erreichte. Der Begriff ist relativ jung und es gibt noch keine empirischen Studien dazu. Wenn man Lehrkräfte zu diesem Phänomen befragt, können diese zumeist zwei, drei Elternpaare benennen, die man in diese Gruppe einsortieren könnte. Auf der anderen Seite sind Lehrkräfte aber genauso in der Lage, Eltern zu benennen, die sich überhaupt nicht um ihre Kinder kümmern, sie teils sogar hungrig und ohne Pausenbrot in die Schule gehen lassen. Wenn man diese Extreme außen vor lässt, attestieren Lehrkräfte den meisten Eltern tendenziell eher, dass sie sich mehr für Elternabende oder schulische Initiativen engagieren könnten.

Wie sollte man dem herrschenden Kulturpessimismus begegnen, dass es die nächste Generation noch schwerer hat, unterm Strich noch weniger lernt?
Ich denke, mit Gelassenheit und dem Wissen, dass es diesen kulturpessimistischen Blick auf die nachfolgende Generation schon seit Jahrhunderten gibt, die Realität aber anders aussieht.

„Pointiert formuliert könnte man behaupten, dass außerhalb der Schule derzeit am meisten und am nachhaltigsten gelernt wird. ”

Carsten Rohlfs
Carsten Rohlfs (Foto: Kay Herschelmann)
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Carsten Rohlfs
Carsten Rohlfs ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Heidelberg

Neue Lernorte

Wo sind die neuen Lernorte?
Pointiert formuliert könnte man behaupten, dass außerhalb der Schule derzeit am meisten und am nachhaltigsten gelernt wird. Das fängt mit dem sogenannten informellen Lernen in der Familie an, wo Kinder und Jugendliche von den Eltern, Geschwistern oder Großeltern gefördert oder herausgefordert werden. Manche Kinder profitieren von einem großen kulturellen Kapital in der Familie, andere nicht, weil sie nach der Schule in ein Familienmilieu kommen, in dem den ganzen Tag über bloß der Fernseher läuft.

Daneben gibt es die Orte der non-formalen Bildung...
... von der Nachhilfeschule über Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Sportvereine, Musikschulen usw. All diese Lernorte gab es größtenteils auch schon vor Jahrzehnten, sie werden aber heute stärker wahrgenommen. Denn man hat erkannt, wie intensiv Lernen und Bildung dort stattfinden. Es werden wertvolle Kompetenzen vermittelt, wie z.B. das selbständige Beschaffen und Bewerten von Informationen. Solche Kompetenzen, die in der späteren Lebens- und Arbeitswelt immer wichtiger werden, finden in der Schule bislang erst wenig Wertschätzung.

Schule, Familie, Freizeit. Wird Lernen in Deutschland noch zu sektoral gedacht?
Absolut. Das fängt schon an den Lehrstühlen der Universitäten an. Es gibt Jugendforscher, Freizeitforscher, Kindheitsforscher, die alle in ihre Felder schauen, mit den Schulpädagogen aber kaum etwas zu tun haben. Nur wenige Kollegen schaffen es, hier Verknüpfungen zu ziehen. Ich unterrichte angehende Lehrkräfte und weise sie explizit darauf hin, dass man alle Bereiche viel stärker zusammen betrachten muss, weil man sonst zu wenig über das Lernverhalten der Kinder und Jugendlichen versteht, die vor einem sitzen. Man weiß nicht, was sie bewegt, und auch nicht, was sie können. Das Ende vom Lied ist dann leider noch viel zu oft, dass Lehrkräfte dazu neigen, Kinder in der Lebenswelt Schule auf die dort erbrachten Leistungen zu reduzieren. Das mündet dann häufig auch in Schuldzuweisungen, dass Eltern sich zu wenig oder zu überzogen um das Lernverhalten ihrer Kinder kümmern.

Was wird verpasst?
Wenn ein Kind schon bestimmte Aufgaben in der Familie, Peer-Group oder im Sportverein übernommen und gelernt hat, könnte man dieses Wissen in der Schule nutzen, herausheben und anerkennen. Von dieser Wertschätzung würde nicht nur das Kind selbst profitieren, die anerkannte Leistung hätte auch Vorbildcharakter für die anderen Schüler. Und vergessen wir nicht: In seinem Können erkannt und dafür gelobt zu werden, bringt Freude und damit auch wiederum Spaß am Lernen.

Lehrkräfte wissen oft weniger über digitale Medien als ihre Schüler...
...was dazu führt, dass es eine große Scheu davor gibt, digitale Medien in Schulen einzusetzen, weil man diese Situation fürchtet, dass die Schüler einem überlegen sind. Warum kann man das außerhalb von Schule erworbene Expertenwissen der Kinder und Jugendlichen nicht einfach anerkennen?

Wie wird Lernen in der Zukunft aussehen?
Natürlich bin ich kein Prophet. Gerade wenn man an die Unterrichtsebene in Schulen denkt, kommt man schnell in den Bereich, dass man es sich so vorstellt, wie man es gerne hätte. Was ich aber glaube sagen zu können: Kinder werden zukünftig selbständiger und autonomer lernen, weil sich schon jetzt abzeichnet, dass die Wirtschaft sich diese Fähigkeiten bei Arbeitskräften wünscht. Freie Vorträge halten, Teamarbeit, Gruppenarbeit – all das sind Lern- und Lehrformen, die Schule verändern werden und es auch schon tun. Bestimmte Kernkompetenzen, wie beispielsweise das schon erwähnte selbständige Beschaffen von Informationen, werden viel wichtiger als das Abklappern eines starren Fächerkanons.

Wird Digitalisierung mit neuen außerschulischen Lernangeboten Schule stark verändern?
Ich denke, das Schulsystem ist ein überaus träges und zähes Gefüge. Und deshalb wird es aus meiner Sicht auch in einigen Jahrzehnten noch so sein, dass man nach der vierten Klasse aufs Gymnasium wechselt, wenn Kinder eine höhere Bildung anstreben. Und ich denke, sie werden auch weiter ein akademisches Studium aufsatteln und nicht unbedingt in Scharen in den autodidaktischen Bereich wechseln. Brüchige Biografien werden zunehmen, Studierende werden häufiger ihr Studium wechseln und auch die Weiterbildung wird sehr an Bedeutung gewinnen. Die klassischen Bildungssäulen aber sind in Deutschland so zementiert, dass sie so schnell nicht zerbrechen. Ein Beweis dafür sind für mich die vielerorts erfolglosen Bestrebungen, das Gymnasium zukünftig ebenfalls in eine Gemeinschaftsschule zu integrieren. 

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