Chancengerechtigkeit

Bildung für Flüchtlinge

image
Der Syrer Mohammed Jajan ist mit Abitur, aber ohne Zeugnis gekommen. Jetzt sucht er eine Perspektive. (Foto: Murat Türemis)
©

Erst als Bomben auf Teheran fielen, ließen ihre Eltern Jasmin Taylor gehen. Die Entscheidung zur Flucht sei vielleicht ihr erster unternehmerischer Schritt gewesen, sagt Taylor heute. Inzwischen leitet sie ein millionenschweres Reiseunternehmen in Berlin. Sie verkörpert den Aufstieg vom Flüchtlingskind zur Selfmade-Unternehmerin. Mit ihrem Wissen will sie geflüchtete Frauen in einem Patenprogramm bei ihrem Neustart in Deutschland unterstützen; einem Neustart, wie sie ihn sich selbst gewünscht hätte.

Das vergangene Jahr hat vieles verändert in Deutschland. In nahezu allen Städten und vielen kleinen Gemeinden sind Flüchtlinge angekommen. Wer länger im Land bleiben darf, soll schneller als früher an der deutschen Gesellschaft teilhaben können. Deshalb wurden Sprachkurse eingerichtet, Willkommensklassen eröffnet und Stipendien ausgeschrieben. Bildung für Flüchtlinge ist zum Großprojekt geworden. Und auch der Stifterverband beteiligt sich mit seiner Initiative „Integration durch Bildung“ daran, in der viele Aktivitäten gebündelt werden (siehe Kasten). Jenseits von aufgeregten Debatten stellt sich die Frage: Wie gut klappt die Integration durch Bildung bereits? Und wo geht es immer noch zu langsam?

Integration durch Bildung

Das Förderprogramm des Stifterverbandes besteht aus vier Aktionslinien, die an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Vor allem geht es dabei um die Integration durch Bildung und den Übergang in den Arbeitsmarkt. Unterstützt wird neben der individuellen Förderung von Flüchtlingen auch der Aufbau von Strukturen, die dauerhaft und flächendeckend zur besseren Integration beitragen

Mehr erfahren

„Als ich kam, gab es keine Integrationsangebote für Flüchtlinge”

image
Jasmin Taylor (Foto: JT Touristik)
©
Jasmin Taylor
Die Reiseunternehmerin engagiert sich für die Neuankömmlinge von heute

Dass sich etwas ändert, spürt auch die Reiseunternehmerin Taylor. Als sie Mitte der 1980er-Jahre in Deutschland ankam, hatte die damals 17-Jährige nichts außer 500 Mark in ihrer Tasche. Während des Sprachkurses arbeitete sie als Zimmermädchen in Hotels. Am Gymnasium überzeugte sie die Lehrer, sie zur Probe am Unterricht teilnehmen zu lassen. Wenige Monate später schaffte sie die Klausuren und durfte bleiben. „Damals gab es in Deutschland kaum Integrationsangebote für Flüchtlinge“, erinnert sich Taylor. Flüchtlinge am Gymnasium waren die große Ausnahme.

In Schulklassen willkommen

Heute gibt es viele Vorbereitungsklassen für junge Flüchtlinge, allein in Berlin inzwischen mehr als tausend. In der Oberstufe besucht jeder dritte Flüchtling eine Willkommensklasse an einem Gymnasium. Dort lernen sie zuerst die deutsche Sprache und wechseln dann Schritt für Schritt in den Regelunterricht mit den anderen Schülern: zuerst in Sport, später in Mathe, dann auch in den übrigen Fächern.

Viele Länder haben damit begonnen, neue Lehrer für die Flüchtlingsintegration einzustellen. Etwa 100.000 schulpflichtige Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen. Bis zu 14.000 zusätzliche Lehrer seien nötig, um sie zu unterrichten, schätzt die Kultusministerkonferenz. Nicht nur die jungen Flüchtlinge, auch andere Schüler profitieren davon, denn die meisten zusätzlichen Lehrkräfte werden in allgemeinen Klassen eingesetzt. Mehr Lehrer heißt am Ende: besserer Unterricht. Und wenn mehr Wert auf Sprachvermittlung gelegt wird, profitieren davon auch Schüler mit Migrationshintergrund, die schon länger oder immer in Deutschland leben. 

Eine Zukunft aufbauen

Nicht nur an die Gymnasien, auch an die Hochschulen zieht es immer mehr Flüchtlinge. So wie den 18-jährigen Mohammed Jajan aus Syrien. Sein charmantes Lächeln und seine hellwachen Antworten lassen kaum Zweifel daran, dass er sein Ziel erreichen kann. Noch arbeitet er allerdings im Café des ehemaligen Flughafens Tempelhof, einer der größten Flüchtlingsunterkünfte Berlins. Hier leben rund 1.500 Flüchtlinge in leeren Flugzeughangars, die durch Trennwände in kleine Wohneinheiten aufgeteilt sind.

Mohammed gehört zu einer neuen Generation von Flüchtlingen, die ein ziemlich klares Bild von ihren Chancen in Deutschland haben. „Ich bin nicht wegen des Geldes hergekommen. Deswegen will ich auch keine Ausbildung machen. Ich möchte in Deutschland studieren und mir hier eine Zukunft aufbauen.“ Die meisten Fragen auf Deutsch versteht Mohammed nach einem Jahr schon ohne Übersetzer. In Syrien hat er Abitur gemacht, Zeugnisse hat er allerdings keine. Wie er so einen Studienplatz bekommen will, weiß er auch noch nicht genau. Zuerst muss er ohnehin noch seinen zweiten Deutschkurs zu Ende bringen.

Trotz ihres Interesses kommen Flüchtlinge bislang nur spärlich an den Hochschulen an, stehen vor einem Studium doch sprachliche und bürokratische Hürden, die kaum zu überwinden sind. Dennoch rechnet die Bundesregierung in den nächsten drei Jahren mit bis zu 70.000 Bewerbungen von Flüchtlingen. Die Initiative Kiron Open Higher Education, ein soziales Start-up aus Berlin, soll möglichst vielen von ihnen ein Studium ermöglichen. Dank Kiron könnte zum Beispiel der Flüchtling Mohammed jetzt schon Zugang zu Onlinekursen an verschiedenen deutschen und internationalen Hochschulen bekommen. Nach zwei Jahren könnte er dann den Sprung an eine richtige Hochschule versuchen und sich die bisherigen Leistungen anrechnen lassen. Aber was ist, wenn er bis dahin noch immer keine Zeugnisse vorweisen kann? Dann müsste er wahrscheinlich trotzdem sein Abitur an einer Abendschule nachholen. Flexible Lösungen für Flüchtlinge sind an den Hochschulen immer noch selten.

Chance auf eine Ausbildung?

Unsicher ist auch die Lage des 19-jährigen Haile Abrahale aus Eritrea. Er sitzt ebenfalls im Café der Berliner Flüchtlingsunterkunft in Tempelhof. Seit Monaten wartet er auf einen Platz an einer Berufsschule. Im Moment wiederholt er gerade seinen ersten Sprachkurs zur Alphabetisierung, das heißt, er lernt gerade erst lesen und schreiben. Sobald er ein wenig Deutsch kann, würde er gern eine Ausbildung zum Tischler machen. Einen Ausbildungsplatz hat er bislang nicht in Aussicht. 

Zwei junge Männer, die zeigen, wie unterschiedlich die Voraussetzungen bei jungen Flüchtlingen sein können. So wie Haile und Mohammed bringen die wenigsten von ihnen einen brauchbaren Berufsabschluss mit. Damit sie in Deutschland dennoch eine Chance erhalten, wird es wohl besonders auf die Berufsschulen ankommen. Und auf die Unternehmen, die mehr Zeit in ihre Auszubildenden investieren müssen.

image
Haile Abrahale aus Eritrea (Foto: Murat Türemis)
©
Sein Ziel: Lesen und Schreiben - Haile Abrahale aus Eritrea will nach seinem Alphabetisierungskurs eine Ausbildung beginnen.

Gerade im Bereich der Berufsausbildung waren die Erfahrungen mit Flüchtlingen bislang ernüchternd. Beinahe jeder Zweite breche seine Ausbildung wieder ab, beklagte zum Beispiel die Handwerkskammer von Oberbayern. An den Berufsschulen ist man vorsichtig optimistisch, dass sich daran nun etwas ändern könnte. Seit dem vergangenen Jahr können Flüchtlinge zum Beispiel nicht mehr abgeschoben werden, wenn sie eine Ausbildung begonnen haben. Und sie bekommen leichter finanzielle Unterstützung.

„Grundsätzlich könnten Flüchtlinge einen Teil der offenen Ausbildungsplätze besetzen“, sagt Katrin Engel von der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Berlin. Die Unternehmen seien sehr interessiert. „Es fehlt aber oft der richtige Informationsfluss“, so Engel weiter. Deshalb wolle die IHK verstärkt in Flüchtlingsunterkünften für ihre Mitgliedsunternehmen werben. Und in der Berliner Innenstadt hat sie eine Beratungsstelle für Firmen eingerichtet, die Flüchtlinge ausbilden wollen. In jedem Fall müssen die Betriebe mehr Zeit einplanen, da sind sich viele Experten einig. Am ehesten seien die Flüchtlinge erfolgreich, wenn ihnen ein Ausbildungsbegleiter an die Seite gestellt wird, zum Beispiel ein Handwerksmeister.

Die Reiseunternehmerin Jasmin Taylor nutzt kurzerhand ihre eigenen Kontakte, um geflüchtete Frauen mit Berliner Unternehmerinnen in Kontakt zu bringen. Oft ruft sie die Frauen in ihrem Patenprogramm zusammen und stellt ihnen passende Berliner Unternehmerinnen vor. Ein paarmal sind sie auch schon gemeinsam in ein klassisches Konzert gegangen. Dort lernten die geflüchteten Frauen etwas über Deutschland, und gleichzeitig konnten sie wertvolle Kontakte knüpfen. Vielleicht warten ja die besten Bildungschancen im Foyer eines Opernhauses auf sie.

Cover CARTA 2020
Cover der CARTA 2020, Ausgabe 2017
©

Unter dem Titel Was kann ich am besten? veröffentlichte der Stifterverband im Januar 2017 die fünfte Ausgabe der Magazinreihe CARTA 2020. Diese begleitet die Bildungsinitiative „Zukunft machen“. Das aktuelle Heft widmet sich auf 60 Seiten dem Thema chancengerechte Bildung.

Auf dem Cover: Michel, ein Zehntklässler wie viele andere auch: Voller Tatendrang und - vor allem - mit besten Aussichten auf die Zukunft. Denn noch nie konnten sich Jugendliche wie er so frei und individuell entfalten wie heute. Gleichwohl trifft auch dies nicht auf alle zu. Noch immer stehen Herkunft, Geschlecht oder ein körperliches Handycap einer freien Entwicklung entgegen.

Ihre Geschichten werden in der CARTA erzählt. Was tun Bildungseinrichtungen in Sachen Vielfalt und Chancengerechtigkeit? Im Interview erzählt IBM-Deutschland-Chefin Martina Koederitz, wie das Unternehmen mit den Herausforderungen der zunehmend vielfältigen Gesellschaft umgeht. Hirnforscher Gerald Hüther und die Talentsucherin Jelena Jojevic reden über die neurologischen Voraussetzungen für Potenzialentfaltung und über die wahre Aussagekraft von Schulnoten. 

Mehr erfahren
Tauchen Sie tiefer in unsere Insights-Themen ein.
Zu den Insights