Chancengerechtigkeit

Alles auf Bildung

Foto: Britta Wilkens
Foto: Britta Wilkens
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Norman* steht im Leben nicht auf der Gewinnerseite. Nach seiner Geburt war seine 19-jährige Mutter mit dem Schreikind überfordert, baute keine Bindung zu ihrem Sohn auf. Mit drei sprach Norman kaum, war im Kindergarten aggressiv. Mit sechs an der Förderschule konnte er sich nicht konzentrieren. Als Lehrkräfte das Jugendamt einschalteten, offenbarte sich das ganze Ausmaß von Normans Martyrium. Der unterernährte Junge schlief in der verwahrlosten Wohnung auf dem Fußboden. Bei kleinsten Anlässen verprügelte ihn der Stiefvater, oft bis zur Bewusstlosigkeit. Das Amt fand eine Pflegefamilie für Norman, aber die war mit dem schwer traumatisierten Jungen überfordert – Norman musste ins Heim.

Sein Schicksal wendete sich, als er einen Platz in einer Mattisburg bekam, so nennt die Stiftung „Ein Platz für Kinder“ ihre Kinderschutzhäuser. Zwei Jahre lang können Vier- bis Zwölfjährige dort bleiben. Ein Team aus Pädagoginnen und Pädagogen und Psychologinnen und Psychologen arbeitet mit ihnen das Trauma auf, individuelle Betreuung gibt ihnen Stabilität und Sicherheit.

Bildungschancen für traumatisierte Kinder

Johanna Ruoff, Stifterin und Initiatorin der Mattisburgen
Johanna Ruoff (Foto: Stiftung Ein Platz für Kinder)
Johanna Ruoff (Foto: Stiftung Ein Platz für Kinder)
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Heute lebt Norman in einer Pflegefamilie und besucht die Regelschule. Auch wenn seine Noten mäßig sind, wird er wohl die Schule abschließen. Selbstverständlich ist so ein Bildungsweg für Kinder wie Norman nicht. „Traumatisierte Kinder passen nicht gut ins Schulsystem“, sagt Johanna Ruoff, Stifterin und Initiatorin der Mattisburgen. „Viele sind verhaltensauffällig, der Unterricht überfordert sie. Deshalb liegen sie schnell mehrere Schuljahre zurück.“ Damit die Kinder ins Lernen zurückfinden, hat Ruoff 2018 ein neues Projekt angestoßen: ein therapeutisches Internat – Grundschule und ein sicheres Zuhause zugleich.

Dass das Internat kein Traum bleibt, ist auch der Bildungslotterie freiheit+ zu verdanken. 10.000 Euro aus Spielentgelten flossen 2020 in das Projekt, weitere Unterstützung könnte folgen. Für die auf Bildung spezialisierte Soziallotterie haben sich der Stifterverband, die SOS-Kinderdörfer weltweit und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung in der BildungsChancen gGmbH zusammengetan. 

„Traumatisierte Kinder passen nicht gut ins Schulsystem“

Johanna Ruoff (Foto: Stiftung Ein Platz für Kinder)
Johanna Ruoff (Foto: Stiftung Ein Platz für Kinder)
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Johanna Ruoff

30 Prozent der Spielentgelte gehen an Bildungsprojekte

Seit März 2020 läuft das Tippspiel in Zusammenarbeit mit dem Lotterie-Betreiber ZEAL Network. Die Gewinnchancen sind deutlich höher als beim Lotto, die Gewinne attraktiv: Wer gewinnt, erhält 250.000 Euro als Sofortgewinn sowie 15 Jahre lang monatlich noch einmal 5.000 Euro. Zudem fördern 30 Prozent der Spielentgelte Bildungsprojekte. Und das ist viel: 1,8 Millionen Euro sind 2020 in 51 Bildungsinitiativen im In- und Ausland geflossen. Ein Teil davon sind Projekte der drei Gesellschafter, darüber hinaus haben Bildungsvorhaben freier Träger bis zu 10.000 Euro Unterstützung erhalten. Wie zum Beispiel das therapeutische Internat Mattisburg-Sternstunden. Im laufenden Jahr rechnet die BildungsChancen gGmbH aufgrund der guten Entwicklung der Lotterie bereits mit einem Fördervolumen von bis zu sechs Millionen Euro.

Die Lotterie

freiheit+ ist die erste deutsche Soziallotterie, die ihren Fokus gezielt auf die Förderung von Bildungsprojekten setzt. Initiatoren sind der Stifterverband, die SOS-Kinderdörfer weltweit und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Mit ihren Förderprojekten will die Lotterie Menschen ermöglichen, ihre individuellen Potenziale zu entfalten – das kommt wiederum der gesamten Gesellschaft zugute. Von jedem verkauften Los gehen 50 Cent an gemeinnützige Bildungsprojekte der drei Initiatoren sowie an ausgewählte Projekte freier Träger.

„Das Internat erfüllt viele unserer Förderkriterien“, erklärt Benedikt M. Rey. Gemeinsam mit Gerald Mauler von den SOS-Kinderdörfern weltweit ist er Geschäftsführer der BildungsChancen gGmbH. „Die Projekte sollen Menschen helfen, ihr Potenzial zu entfalten, und für mehr Chancengleichheit sorgen. Wichtig finden wir auch, dass die Projekte nachhaltig sind und nach unserer Förderung weiter bestehen können.“

Innovatives Wohn- und Schulkonzept

Foto: Michaela Kuhn/Stiftung Ein Platz für Kinder
Foto: Michaela Kuhn/Stiftung Ein Platz für Kinder
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Damit das gelingt, hat sich Ruoff seit 2018 ins Zeug gelegt: verhandelt, konzipiert, Förderer überzeugt, Netzwerke ausgebaut. In dem bayrischen Kinderhilfsverein Sternstunden fand sie einen Hauptförderer, dort machte man sie auch auf das leer stehende Gebäude einer ehemaligen kirchlichen Schule am Chiemsee aufmerksam. Ab Herbst 2021 werden hier Baucontainer stehen. Ein Umbau ist nötig, um das Haus an Bauvorschriften und das Wohn- und Schulkonzept des Internats anzupassen. Mitte 2023 ziehen die ersten Kinder ein, es gibt Plätze für 22 Fünf- bis Zwölfjährige. Der schulische Teil des Tages wird aus kurzen, individuellen Lerneinheiten bestehen, dafür arbeitet das Internat mit einer Förderschule zusammen. Am Nachmittag stehen Therapie und Freizeit auf dem Programm. „Wir können die Folgen der schweren Traumata leider nicht völlig heilen“, sagt Ruoff. „Aber wir können die Kinder so stabilisieren, dass sie anschließend gut in einer Pflegefamilie leben und die Schule abschließen können.“

Der Wunsch, individuelle Bildungswege zu ebnen, ist auch für Rey ein starker Antrieb. Für die Lotterie kümmert er sich zum Beispiel um Strategie und Finanzierung – neben seinen Aufgaben als Leiter des Bereichs „Projektfinanzierung und strategisches Fundraising“ im Stifterverband. Die Bildungslotterie sieht er nicht nur als eine zusätzliche Quelle für Fördergelder – mit ihrem starken Fokus auf individuelle Bildungsförderung erweitert sie auch inhaltlich das Spektrum der vom Stifterverband geförderten Projekte.

Dahinter steht die Erkenntnis, dass es Bund und Ländern nicht ausreichend gelingt, Kinder und Jugendliche so individuell zu fördern, dass sie ihr Potenzial voll entfalten können. Vor allem Kinder, die im Elternhaus nicht genug Unterstützung beim Lernen erhalten, haben dabei oft das Nachsehen – und langfristig auch die Gesellschaft und die Wirtschaft. Gleichzeitig gibt es zu wenige Stiftungen und Organisationen, die über Pilotprojekte hinaus diese Zielgruppe auch in der Fläche fördern. Mit der Bildungslotterie trägt der Stifterverband dazu bei, diese Lücke zu schließen.

*Name redaktionell geändert.

Der Artikel erschien zuerst im Jahresbericht 2020/21 des Stifterverbandes.

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