Sandra Sieber: Die große Unsicherheit beim Digitalisieren

"Wir gucken eigentlich immer in die Vergangenheit und lernen aus der Vergangenheit. Bei der Digitalisierung haben wir keine Vergangenheit. Deswegen heißt es ja auch, dass es eine Revolution ist."

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Sandra Sieber: Die große Unsicherheit beim Digitalisieren (Video)
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In Forschung und Entwicklung baut man ja gerne auf Bewährtem auf. Aber was ist, wenn es wegen der Digitalisierung plötzlich keine Vergangenheit gibt, die man einfach fortschreiben kann? Sandra Sieber, Professorin für Informationssysteme an der IESE Business School in Barcelona, hat einen guten Rat, den vielleicht gerade Wissenschaftler und Unternehmen in Deutschland nicht gerne hören möchten.

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Autorin: Corina Niebuhr
Produktion: Webclip Medien Berlin
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Das Interview entstand am Rande des Forschungsgipfels 2016.

Transkript des Videos

Wenn es um Digitalisierung geht, das beißt sich eigentlich mit fast allem. Das beißt sich auch ganz besonders mit der Forschung, weil die Forschung erforscht ja eigentlich immer bis 100 Prozent Sicherheit.

Und wir brauchen ganz viele alte Daten dafür. Wir gucken eigentlich immer in die Vergangenheit und lernen aus der Vergangenheit, um dann quasi Resultate für die Zukunft zu finden, Klar, bei der Digitalisierung haben wir keine Vergangenheit. Deswegen heißt es ja auch, dass es eine Revolution ist. Und wenn man keine Vergangenheit hat, dann muss man halt auch anders forschen. Und wir müssen dann halt auch ein Forschungsmodell entwickeln, bei dem es darum geht, bei 80 Prozent haben wir recht, und zu 20 Prozent haben wir unrecht. Das ist für einen Forscher ganz fürchterlich, etwas zu schreiben, wo er dann wirklich unrecht haben könnte, und diese 20 Prozent zu haben, da muss dann auch die Risikobereitschaft des Forschers sein: Ich gehe jetzt erstmal an den Markt und erzähle das jetzt erstmal so, weiß aber auch: Ich kann hier gerade einen Fehler machen und muss mich dann danach korrigieren. Aber nur so kriegen wir die Schnelligkeit der Forschung da hin, wo sie eigentlich sein sollte. Wenn wir immer die letzten 20 Prozent auch noch machen, bis wir todsicher sind, dann sind wir einfach zu langsam.

Und das dann auch noch im Unterricht den anderen beizubringen, ist halt auch ein großer Wandel, denn plötzlich ist es auch so, dass dann zum Beispiel einer nicht todsicher sagen kann: Das ist jetzt nun mal so, da kann dann auch einfach mal der andere sagen: Das ist jetzt so! Und das ist, was wir in der Forschung auch wirklich oft den Flipped Classroom nennen, weil jetzt nicht Herr Professor recht hat, sondern die anderen halt recht haben. Und dann wird man plötzlich mehr zu so einem Orchestrator, indem man eine Diskussion schön führen kann, aber nicht unbedingt knowledge-führend ist. Das heißt: Ich habe jetzt nicht die Wahrheit mit dem Löffel gegessen, nein, wir bauen sie jetzt erstmal zusammen. Wir erkennen jetzt selbst erstmal, wo das ist, und das ist natürlich ein ganz großer Wandel in der Forschung, aber auch in der Bildung.

Dieses neue IT-Denken ist etwas, das ist sehr herausfordernd für Firmen, weil sie einfach normalerweise, wenn Sie denken an Technologie und an Information, denkt man normalerweise Datenschutz. Also: Wie kann ich ... Risiko ist also immer: Nein. Wenn wir aber an business model denken, dann ist ja Risiko immer: Ja. Wir brauchen ja ein bisschen Risiko, damit wir überhaupt unser Geschäftsmodell in Gang bringen können. Und wenn jetzt plötzlich die Digitalisierung kommt, die quasi das IT ins Business tut, dann müssen wir plötzlich uns jetzt umdenken, weil wir sagen: Ja, zu IT müssen wir auch Risiko Ja sagen, weil jetzt ja IT zum Business gehört. Und das ist eine ganz große Herausforderung für die etablierten Firmen. Das ist etwas, was die Start-ups alle schon lange erkannt haben, weil die halt direkt ihr Business mit dem IT bauen. Und dieses Denken dann in etablierte Firmen zu bringen, ist normalerweise eine ganz, ganz große Herausforderung. 

Wenn man dann anfängt, wirklich digital zu arbeiten, dann muss man auch Experimente machen. Man weiß ja gar nicht, was denn eigentlich kommt. Wir haben ja schließlich keine Vergangenheit, wir haben ja nur Zukunft in digital. Das heißt, man muss sich dann erstmal selbst entdecken: Was kann denn eigentlich gut gehen und was geht da nicht so gut? Aber klar, um zu entdecken, was nicht so gut geht, muss man halt ein Experiment gemacht haben. Das heißt: Ich muss dann ja auch oft als Firma erstmal an den Markt gehen, testen und dann feststellen: Das ging aber gerade in die Hose! Und das ist etwas, damit haben etablierte Unternehmen ganz große Probleme. Das ist ja mein guter Name, ist dann ja plötzlich da, ich habe jetzt ein fehlgeschlagenes Experiment, weil ich jetzt versucht habe, in diesem Bereich zu digitalisieren. Und das sieht dann ja jeder. Und diese Fehlerbereitschaft, die sehen wir dann ja oft in neuen Firmen. Die sehen wir aber normalerweise nicht in den alten Firmen. Und da muss man sich halt erstmal ranarbeiten und sagen: Ja, ich bin jetzt auch bereit, diesen lean start-up approach mitzumachen, agil zu sein. Aber Agilität heißt immer: Ich teste erstmal im Markt.

Das sieht man ganz klar bei App-Bauern. Wenn man eine App in den App Store stellt, dann weiß man ganz genau: Am Anfang geht da irgendetwas schief. Und man baut dann ganz schnell eine Version 2 und hat ein Update. Und dann eine Version 3 und hat ein Update, und das geht dann immer wieder weiter, weil die App ist am Anfang normalerweise immer nur so ein Rohbau. Und dann erkennen wir durch den Markt: Was möchte denn eigentlich der Benutzer von meiner App am liebsten haben? Und dann baue ich mir so ein Backlog auf und sage: Jetzt arbeite ich mich in den verschiedenen Versionen da durch und habe dann mein Endmodell irgendwann. Aber ich kann auch entdecken, dass die ganze App einfach Mist ist. Und das ist halt das Problem.

Es wird ja zurzeit sehr viel von disruptivem Wandel gesprochen, und disruptiv ist eigentlich ein Wort, das ich gar nicht gerne habe. Es geht eigentlich darum, also entweder, man ist innovativ, oder man renoviert. Das heißt also, disruptiv hört sich ja immer an: Man zerstört ganz viele Sachen. Und eigentlich geht es sehr viel mehr darum, dass also mit der Digitalisierung eigentlich es nötig wird, sich einfach mal selbst in Frage zu stellen und nicht einfach nur zu sagen: Ich kann jetzt auf dem aufbauen, was ich schon habe, sondern: Muss ich vielleicht erstmal etwas rauswerfen? Wenn ich was rauswerfe, muss ich halt renovieren. Und darum muss das Alte weg und etwas Neues kommen. Und das ist das, was in Firmen sehr oft sehr schwer erkannt wird. Weil es ist halt schmerzvoll. Und wenn man aber richtig an Digitalisierung rangeht, dann braucht man Zweifaltigkeit. Man muss erstmal denken: Wo kann ich eigentlich innovativ an das ganze herangehen? Und wo muss ich renovieren? Und wenn ich renoviere, dann kommt halt das neue Geschäftsmodell, und bei neuen Geschäftsmodellen kann es wirklich so sein, dass dann das alte Geschäftsmodell plötzlich nicht mehr da ist.

Unternehmen gehen also an Digitalisierung entweder mit Unlust ran, und dann kann man ganz, ganz viele Barrieren sich selbst aufbauen: Die Regulierung stimmt nicht, und die Gesetzgebung stimmt nicht, und das geht ja alles so nicht und der Datenschutz und und und. Oder ich gehe da heran und sage: Gut, ich schaue mir das jetzt erstmal an, und ich erkenne das Potenzial und arbeite dann darauf hin. Was dann aber wirklich auch oft beinhaltet, dass dann wirklich sehr viel Wechsel in den Organisationen stattfinden muss, und das geht dann halt an die Systeme, das geht an die Geschäftsmodelle. Das geht natürlich auch an meine Talente. Dann ist dann oft der wichtige Manager unwichtig, der wichtige Arbeitnehmer ist unwichtig, und wir müssen halt dann alles neu strukturieren. Und da ist dann halt plötzlich auch alles sehr wichtig: Wie bilde ich mich neu?

Wenn man mit der digitalen Transformation anfängt im Unternehmen, muss man dann erkennen, dass man in verschiedenen Ebenen arbeitet. Das heißt: Das Top-Management muss dabei sein. Man hat sich die Vision erarbeitet und muss sie dann auch ganz klar kommunizieren. Dann haben wir normalerweise unten die Millennials. Das sind ja mittlerweile sehr viele in den Organisationen, die sind normalerweise davon begeistert, weil sie ja eigentlich digital nativ sind. Da muss man dann erkennen, an die kann ich mich richtig stark wenden am Anfang, und die können dann auch wirklich Wendungskraft haben. Und dann muss man noch erkennen: In der Mitte sind normalerweise meine Stopper. Das sind normalerweise die, die in einem System gearbeitet haben, mit einem alten Geschäftsmodell, das sie mögen. Es ist ja auch keine große Krise da, und deswegen die dann dazu hinzubekommen, dass sie auch die digitale Transformation mittragen, das ist normalerweise eine sehr schwere Arbeit.