Susanne Kunschert: Digitalisierung ist nicht das Allheilmittel

"Der Mensch braucht immer wieder Räume der Stille. Der Mensch braucht Raum der Konzentration. Er braucht einen Raum für Kreativität. Er braucht verschiedene Dinge, die die Digitalisierung nicht bieten kann."

Video abspielen
Susanne Kunschert: Digitalisierung ist nicht das Allheilmittel (Video)
Youtube

Von der Glasbläserei zur Automatisierungstechnik: Ohne den beherzten Schritt zu neuen Technologien und Digitalisierung gäbe es die Pilz GmbH & Co. KG heute wohl kaum noch, meint die Geschäftsführende Gesellschafterin Susanne Kunschert. Doch vor lauter digitalem Hype sollte man die Menschen nicht vergessen. Und es gibt triftige Gründe, wieso Digitalisierung nicht schon im Kindergarten einsetzen sollte.
 
Jede Woche neu beim Stifterverband:
Die Zukunftsmacher und ihre Visionen für Bildung und Ausbildung, Forschung und Technik

Autor: Timur Diehn
Produktion: Markus Müller, Christian Slezak
für den YouTube-Kanal des Stifterverbandes

Transkript des Videos

Das Technische darf nicht alles überwiegen. Das darf es nicht. Sonst werden wir auch nicht erfolgreich werden.

Das war schon lange, lange absehbar, dass die Software der stärkere Teil werden wird. Schon lange absehbar, und wir haben schon vor zehn Jahren angefangen, Software-Studenten aufzunehmen und den Anteil von Software- und Hardware-Entwicklung zu verändern, dass die Software ein weitaus größerer Anteil ist als die Hardware-Entwickler. Und damals haben wir gar keine Studenten bekommen, weil die Studiengänge noch nicht in dem Maße danach ausgelegt waren, und sind dann nach Irland gegangen, wo eine hervorragende Software-Universität war, und haben da die Leute rekrutiert und haben in Irland eine Software-Entwicklung aufgebaut. Wir haben 2009 ein Produkt herausgebracht, das heute die erste Industrie-4.0-Steuerung ist. Aber sie ist 2009 auf den Markt gekommen. Das heißt, wir haben schon vor dem Wort Industrie 4.0 angefangen gehabt, und das haben auch andere wache Unternehmen gemacht. Weil wenn man den Trend beobachtet durch das Internet, das war ja absehbar. Wir konnten nur noch nicht mit den Datenmengen, die waren noch nicht so zur Verfügung, dass praktisch bestimmte Entwicklungen möglich waren. Das ist aber jetzt möglich geworden. Aber es war ja absehbar. Ich denke, es kommt immer nur wirklich auf den Geist des Unternehmens darauf an. Das gibt es ja auch bei den Foto-Firmen, da ist doch eine Foto-Firma kaputt gegangen, also jetzt zwischen uns, und die andere, die findet man heute noch in den dm-Märkten, da kann man irgendwie so mit einem Chip die Fotos rauslassen. Ja, die haben es hingekriegt, die anderen nicht. Aber warum? Weil die einen wach waren, weil sie wandlungsfähig waren, weil sie immer beobachtet haben, was geschieht, und ich verändere mich mit, und das andere Unternehmen hat versucht zu wahren und hat gesagt: Das kommt nicht! Verdrängungsmechanismen. Und das war aber auch schon immer so. In der ganzen Firmengeschichte oder wir waren früher eine Glasbläserei bei Pilz, und hätten wir gesagt: Nein, wir wollen Glasbläser bleiben, Plastik wird schon nicht so schlimm, dann gäbe es uns heute in der Form, wo wir heute sind, nicht. Und das ist vielleicht auch so in unserer Familie veranlagt, dass wir Trends aufgreifen, beobachten, mitgehen und dann rechtzeitig anfangen, uns selber zu kannibalisieren, dass wir sagen: Lieber lösen wir uns selber ab wie jemand anderes! Und das sind, glaube ich, Firmen, die Zukunft haben. Das ist jetzt nicht der Mittelstand oder ... sondern das ist die Führung eigentlich des Unternehmens.

Unser Unternehmen sind unsere Menschen. Das sind alle Mitarbeiter, die wir zusammen dort arbeiten. Und deshalb, finde ich, kann man den Menschen nicht rausnehmen und sagen: Ich gucke jetzt ein Unternehmen an, sondern das Unternehmen sind die Menschen. Und ich finde, wenn man den Menschen an sich betrachtet, dann muss man auch Sorge tragen und gucken: Was tut denn dem Menschen gut? Und dem Menschen tut eine Dauerdigitalisierung nicht gut. Der Mensch braucht immer wieder Räume der Stille. Der Mensch braucht Raum der Konzentration. Er braucht einen Raum für Kreativität. Er braucht verschiedene Dinge, die die Digitalisierung nicht bieten kann. Der Mensch braucht Zuwendung. Professor Baldur Kirchner hat gesagt: "Weil Nähe würdigt." Und das ist was Schönes, Nähe zu einem Menschen aufzubringen. Deshalb finde ich, die Digitalisierung ist wichtig und richtig und gut, aber alles in den richtigen Maßen. Genauer erklären kann ich es vielleicht an dem Beispiel der Schulbildung. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Digitalisierung nicht schon in Kindergärten stattfinden sollte und auch nicht in der Grundschule. Die Digitalisierung kann im Gymnasium anfangen und ist auch wichtig, dort gelehrt zu werden, das ist überhaupt keine Frage. Der Grund, warum die Digitalisierung nicht bereits im Kindergarten stattfinden sollte, ist der, dass es für jedes Lernen ein Zeitfenster gibt. Und in der frühen Kindheit, auch im Kindergarten, passiert ganz, ganz viel, was im sozialen Miteinander, Kreativität, Gedankenwelten, Räume, und da sollten die Kinder frei sein. Und auch dort brauchen sie Liebe und Beziehung, Wärme. Sie müssen anfassen. Es hat auch mit dem Gehirn sehr viel zu tun. Ich bin jetzt keine Gehirnforscherin, aber die Studien, die ich gelesen habe übers Gehirn, was in den ersten Jahren praktisch abläuft, die haben mich beeindruckt. Und ich finde, die kann man auch nicht anders interpretieren, dass der Mensch in den ersten Jahren, Lebensjahren, Beziehung braucht, Wärme braucht, dass sich dort dann das Urvertrauen, Selbstwertgefühl entwickeln kann, das wir ja brauchen, dass wir ein stabiles Lebensgefühl später haben, um Software zu entwickeln, um neue Technologien auf den Markt zu bringen, um Mut zu haben. Und all dies brauchen wir, und deshalb finde ich, Digitalisierung ist sehr wichtig, aber es kommt immer darauf an, wann beginnt es und wo setze ich es ein. Ich selber bin ein Mensch der Ruhe, ich möchte nicht im Fahrstuhl Digitalisierung haben, und von daher finde ich, dass man alles mit dem richtigen Maß machen sollte. Und in der richtigen Anwendung und zur richtigen Zeit.

Es ist definitiv im Mittelstand so, dass die Beziehung zur Politik nicht so stark ausgeprägt ist wie jetzt bei den Großkonzernen, und dass wir Hilfe bekommen hätten, dazu waren wir zu klein. Und wir haben dann einfach gesagt: Wir machen es und investieren auch den ganzen Gewinn in die Firma. Also, wir sind sehr frei von monetären Zwängen, Gott sei gedankt. Wir müssen uns da nicht irgendwelchen Aktienkursen unterwerfen und können deshalb auch das ganze Geld reinvestieren und sagen: Wir investieren das in unsere Menschen, in unsere Mitarbeiter. Das kostet viel Geld, wenn man praktisch diese Software-Truppe mit dazunimmt und erstmal vorinvestiert, um dann hinterher die Produkte dafür zu haben. Wir waren auch teilweise zu früh am Markt mit Produkten, die noch gar nicht reif waren eigentlich für die Zeit damals. Jetzt sind sie Industrie-4.0-Produkte. Und ich denke mir, Firmen, die nicht den Weg mitgegangen sind, die haben jetzt die Möglichkeit zu kooperieren. Nur das bedarf auch einer anderen Haltung, denke ich, oder einer, sagen wir nicht, einer anderen, das war falsch formuliert. Es bedarf einer offenen Haltung. Dass man offen und im Vertrauen auf andere Unternehmen zugeht und sich dann eben den Teil erstmal dazukauft, aneignet durch eine Kooperation, durch ein Miteinander. Ich glaube, dass es Deutschland gut tut, wenn mehr Vertrauen entsteht und die Firmen miteinander arbeiten, gerade wenn jetzt eine Firma sagt: "Oh, da brauche ich aber die Software, die habe ich noch nicht. Ich habe auch kein Wissen." dann zusammenzuarbeiten. Es gibt wunderbare Start-ups, die hervorragende Kenntnisse haben, die dann zusammenzubringen und zu sagen: Komm, zusammen sind wir stark. Das, denke ich, ist ein guter Weg.

Wenn ich mich wohlfühle in einer Atmosphäre, dann bin ich kreativ. Wenn ich den Raum für Kreativität habe, bin ich kreativ. Dafür muss ich aber nicht ein Superlab haben, wo jetzt auf einmal alle mit Hoodies rumlaufen und jetzt machen wir alles ganz anders. Ich muss doch einfach nur Mensch sein dürfen, und ich brauche Leute um mich herum, mit denen ich sprühen darf, und ich brauche nicht jeden Tag nur Besprechungen und Sitzungen, sondern ich brauche einfach nur einen Raum, ja, und Menschen, die es zulassen, aber nicht dieses Über-uns-Überstülpen. Die Amerikaner machen das so. Es gibt Silicon Valley, und es soll Neckar Valley geben bei uns in Stuttgart. Warum? Wir haben wundervolle Menschen in Stuttgart, die äußerst kreativ sind und die ihre Gaben zum Strahlen bringen sollen. Und das kann ich nicht machen, indem ich nachmach.

In Kindergärten gehört ein Sandkasten und Förmchen, dass sie 3D selber produzieren können, anfassen können, erleben können. Die Gehirnforschung ist schon sehr beeindruckend, wo gesagt wird, in welcher Lebensphase wird was ausgeprägt. Und in Kindergärten warne ich davor, die Kinder auf Knöpfe drücken zu lassen, sondern die Kinder müssen in den, mit den Händen in den Matsch, und sie sollen formen, sie sollen erleben. In den ersten Jahren wird die Sozialkompetenz und die Kreativität ausgeprägt. Und die Begeisterung für die Forschung, die kommt zu späteren Zeiten. Die kommt! Keine Sorge, die kommt von ganz alleine! Ich habe Kinder beobachtet, weil ich eine große Leidenschaft für Kinder habe, und von daher habe ich auch viele Beobachtungen angestellt, die jetzt in Kindergärten sein dürfen, wo nicht viele Angebote sind, denen auch mal langweilig ist und die viel draußen sein dürfen. Und die habe ich jetzt in der Schulzeit weiter beobachtet, und der eine will jetzt Roboterentwickler werden, und der andere möchte Achterbahnen herstellen, also eine wahnsinnige Technikaffinität. Sie durften aber Kind sein. Sie durften Kreativität entwickeln und Sozialkompetenz entwickeln. Es war ihnen erlaubt. Und ich warne davor, dieses den Kindern zu nehmen. Denn ich glaube, sonst bekommen wir nicht die Forscher und die kreativen Köpfe, die wir haben wollen, und die Begeisterung, die kommt, wenn die Kinder begeisterungsfähig gemacht werden. Aber im Kindergarten muss man dafür sorgen, dass Kinder Begeisterungsfähigkeit überhaupt lernen. Da muss ich die Kinder an das heranführen. Was ist Begeisterungsfähigkeit? Wo sind denn deine Gaben? Was kannst du machen? Wie achtest du auf andere? Und das kann ich einem Kind beibringen. Und dann, in einer späteren Zeit, in der weiterführenden Schule, kann ich dann, sage ich mal, den technischen Hintergrund dazu geben. Aber die Begeisterungsfähigkeit, das ist was Seelisches. Das ist was, was aus mir heraus erwächst und nicht durch was Technisches an mich herangebracht wird.

Wir haben eine große Software-Abteilung in Irland sitzen und auch Software-Entwickler in Deutschland und in der Schweiz. Wir haben 40 Tochtergesellschaften weltweit. Und das Schöne ist, dass alle mit dem Thema Digitalisierung vertraut sind, aber alle auch über die Werte verbunden sind. Also, wir begegnen uns mit einem sehr hohen menschlichen Respekt. Respekt vor den Kulturen, und das ist unwahrscheinlich schön, muss ich sagen, weil wir die Menschen nicht gleichmachen wollen. Ich finde es extrem wichtig, wenn man diese Anzahl an Tochterfirmen hat, dass man jede Kultur respektiert und akzeptiert, damit wirklich diese Respekthaltung auch auf unsere Mitarbeiter, auf unsere Kunden in den Ländern zugeht. Und ich finde es so faszinierend, dass das Thema Technik uns alle so verbindet und das Thema Respekt uns verbindet. Ein tiefer Respekt vor den anderen Kulturen.

Es kommen auch erstaunlich viele Wertediskussionen jetzt wieder auf, wo ich mich darüber freue, weil ich bin Christin und leite aus meinem Christentum die Werte ab, und ich finde es schön, wenn wieder über Werte gesprochen wird, zeigt aber auch, dass ein Bedarf da ist, dass durch die starke Digitalisierung auch ein starker Bedarf an Werten auf einmal wieder da ist. Wo sind meine Wurzeln? Was ist das Zwischenmenschliche denn? Wo ist denn die Seele? Dass dieser Bedarf auch steigt, und es ist gut, und ich finde, dass man sich im Unternehmen Gedanken machen muss und sagen muss: Wie kann ich die Werte nicht nur mit einer Tapete an die Wand hängen, sondern wie kann ich die leben? Wie kann ich die vermitteln? Was kann ich dazu beitragen, dass die Menschen gesehen werden, dass es wirklich ein gutes Miteinander ist, nicht nur technisch, sondern auch menschlich.