MINT-Fachkräfte

Neue Entwicklungen brauchen mehr gesellschaftliche Relevanz

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Maschinenbaustudenten an der Hochschule Zittau/Görlitz (Foto: Peter Himsel)
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Die Wirtschaft klagt seit Jahren über einen Fachkräftemangel. Was sind die großen Herausforderungen, vor denen Unternehmen wie Siemens bei der Rekrutierung von Hochschulabsolventen aus den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik) stehen?
Janina Kugel: Grundsätzlich dürfte es aus unserer Sicht ruhig mehr MINT-Absolventen geben – schließlich stellen wir als Technologiekonzern überproportional viele Hochschulabsolventen ein aus diesen Fachbereichen. Wichtiger ist natürlich, was Menschen in ihrem Studium gelernt haben und was sie ansonsten mitbringen. Dabei fällt gerade bei Kandidaten von deutschen Hochschulen auf, dass die Internationalität höher sein könnte. Die jungen Menschen, die zum Studieren nach Deutschland kommen, stammen aus einer sehr überschaubaren Anzahl an Ländern. Häufig decken deutsche Hochschulen also noch nicht das ganze internationale Potenzial ab. 

Noch wichtiger ist: Die Absolventen sind oft nicht breit genug aufgestellt. Damit meine ich vor allem die  Fähigkeiten und Erfahrungen, welche die Studierenden mitbringen, und wie sie arbeiten. Die von den Universitäten vermittelten Herangehensweisen sind häufig klassisch akademisch geprägt, sprich Probleme werden vorwiegend alleine und mit den bewährten Methoden des eigenen Faches gelöst. In der heutigen Unternehmenspraxis gilt aber: Problemstellungen ändern sich so schnell, dass man innerhalb kürzester Zeit neue Lösungsansätze finden und entwickeln muss – in Teams. Dafür müssen sich Hochschulabsolventen agiler als früher in ihrem Fachbereich bewegen und auch mit Personen aus anderen Fachbereichen zusammenarbeiten können.

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Janina Kugel (www.siemens.com/press)
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Janina Kugel ist Mitglied des Vorstands der Siemens AG und leitet dort den Personalbereich. Sie ist außerdem Mitglied im Aufsichtsrat von Konecranes und der Siemens Healthcare GmbH sowie Mitglied des Stiftungsrats der Siemens Stiftung. 

Heißt das, die Bedeutung des Fachwissens bei der Rekrutierung von MINT-Absolventen nimmt ab?
Janina Kugel: Das Fachwissen ist nach wie vor wichtig, ganz klar. Aber es veraltet eben auch sehr schnell. Ich sehe bei der Rekrutierung einen Trend weg von den Elitehochschulen hin zu der Frage: Wer sind die interessantesten Persönlichkeiten? Ein hervorragender Abschluss zählt da weniger als die Frage: Was bringt ein Studierender an weiteren Kompetenzen und Erfahrungen mit? Für uns ist es beispielsweise interessant, wenn jemand gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge versteht, ein gesellschaftliches Verantwortungsgefühl hat und sich entsprechend engagiert. 

„Die MINT-Fächer haben großes Potenzial für gesellschaftliche Mobilität, für politische Mündigkeit und für Wertevermittlung. ”

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Nathalie von Siemens (Foto: Siemens Stiftung)
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Nathalie von Siemens
Geschäftsführender Vorstand der Siemens Stiftung

Welche Prioritäten setzt die Siemens Stiftung, die ja unabhängig vom Unternehmen agiert, bei der MINT-Bildung?
Nathalie von Siemens: MINT ist für die Wirtschaft hauptsächlich ein ökonomischer Faktor. Für die Siemens Stiftung hat MINT vor allem einen großen gesellschaftlichen Wert. Über das Fachkräftethema hinaus haben die MINT-Fächer große Potenziale für gesellschaftliche Mobilität, für politische Mündigkeit und für Wertevermittlung. Wir bewegen uns in einer Gesellschaft, in der wir einordnen, bewerten und auf dieser Basis gestalten müssen. Für so eine Gesellschaft benötigen wir Menschen, die Fachwissen haben und gesellschaftlich partizipieren können.

Unser internationales Bildungsprogramm Experimento zum technisch-naturwissenschaftlichen Lernen beispielsweise greift Fragen direkt aus der Lebenswelt der Schüler auf. Auf diese Weise können grundlegende soziale Kompetenzen, Faktenorientierung und Urteilskraft aufgebaut werden.

Das zeigt sich auch an den Rückmeldungen von Lehrkräften, die an dem Programm teilnehmen. Im kolumbianischen Medellín zum Beispiel, einer Stadt mit vielfältigen Herausforderungen wie Armut, Kriminalität und Drogen, haben sie festgestellt, dass durch experimentierendes, forschendes Lernen in Gruppen außerdem das Selbstbewusstsein der Schüler steigt, während das Aggressionsniveau sinkt. Ein weiterer wichtiger Faktor: Wir können über die Verbindung von MINT mit gesellschaftlichen Entwicklungen die Fächer auch interessanter für junge Frauen machen. Wir wissen, dass bei der Berufswahl von jungen Frauen eine deutlich größere Rolle als bei jungen Männern spielt, ob ihre zukünftige Tätigkeit denn auch einen relevanten Beitrag für die Gesellschaft leistet. Ich werde Ingenieurin, um den Klimawandel zu bekämpfen – das ist die Motivation, mit der eine junge Frau eine Entscheidung für einen Beruf trifft.

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Nathalie von Siemens (Foto: Siemens Stiftung)
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Nathalie von Siemens ist geschäftsführender Vorstand und Sprecherin der Siemens Stiftung. Sie ist Mitglied des Aufsichtsrats der Siemens AG, der Siemens Healthcare GmbH sowie der Messer Group GmbH. 

Aus Unternehmensbefragungen wissen wir, dass Unternehmen derzeit vor allem Absolventen mit digitalen Kompetenzen händeringend suchen. Gesellschaftliches Engagement wird in Stellenanzeigen eher selten verlangt. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?
Janina Kugel: Mehr IT-Experten würden Deutschland sicher nicht schaden – aber auch die Absolventen anderer Fächer benötigen heute ein solides Repertoire digitaler Kompetenzen. Ich möchte aber den Punkt, den Nathalie genannt hat, auch aus Unternehmenssicht noch einmal bestärken: Viele technologische Entwicklungen werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie der Menschheit einen Vorteil bringen. Was wir verkaufen, braucht zudem gesellschaftliche Akzeptanz. Das ist die Basis für unseren unternehmerischen Erfolg. Wir brauchen deshalb nicht nur Personen, die vom Produkt aus denken und sich erst nach der Entwicklung fragen, welchen Markt es dafür gibt – wir benötigen vor allem Personen, die fragen: Was ist wichtig für welchen Markt? Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen? Und wo will die Gesellschaft überhaupt hin? Von einem solchen Blickwinkel aus entstehen Ideen für erfolgreiche unternehmerische Konzepte.

Nathalie von Siemens: Genau. Wir brauchen eine solche gesellschaftliche Kompetenz für alle mündigen Bürger. Eine tolle Methode, um dieses Denken zu fördern, ist das Service Learning, das an Schulen und Hochschulen eingesetzt wird. Bei dieser Methode wenden Schüler Fachwissen aus dem Unterricht an, um damit aktiv eine Herausforderung in ihrer Gemeinde zu lösen. Wichtig ist, dass das Thema selbst gesucht und das Vorhaben selbst entwickelt wurde. Dies führt dazu, dass das Fach interessant wird und gleichzeitig das bürgerschaftliche Engagement steigt. 

„Ein hervorragender Abschluss zählt weniger als die Frage: Was bringt ein Studierender an weiteren Kompetenzen und Erfahrungen mit?”

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Janina Kugel (www.siemens.com/press)
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Janina Kugel
Chief Human Resources Officer

Was müssen Hochschulen Ihrer Meinung nach besser machen, um gesellschaftliche Kompetenzen unter den Studierenden zu stärken?  
Nathalie von Siemens: Hochschulen können im Rahmen der sogenannten Third Mission, also der Interaktion mit außerhochschulischen Akteuren, einen großen Beitrag leisten und viele tun dies auch bereits. Ich sehe in diesem Zusammenhang vor allem drei Dinge: erstens die Weiterbildung. Wie können wir Menschen unterstützen, die ein paar Jahre aus der Hochschule raus sind, deren Wissen langsam veraltet und deren Arbeitsumfeld sich wahnsinnig schnell wandelt? Das Thema Digitalisierung spielt hier eine besondere Rolle. Zweitens sollte das Thema Gründung eine viel größere Rolle in Lehre und Forschung spielen. Implizit werden an Hochschulen Menschen für abhängige Beschäftigungen ausgebildet, nicht für selbstständige oder unternehmerische. Das liegt daran, dass Gründung häufig nicht in der Lehre verankert und noch zu selten integraler, mitgedachter Teil von Forschungsprozessen ist. Drittens: Start-ups funktionieren dort, wo sich viele Gleichgesinnte aus ganz unterschiedlichen Bereichen treffen – Professoren, Nachwuchswissenschaftler, Studierende mit Gründern und letztlich auch Kapitalgeber und Unternehmen – und voneinander lernen können. In Deutschland gibt es das noch zu selten. Cluster, in denen aber eben diese Ökosysteme entstehen, sind wichtig, weil es dann einen Transmissionsriemen gibt und Forschung schneller in Start-ups verwertet werden kann. Ich bin Sprecherin des Nationalen MINT Forums, in dem sich mehr als 30 Institutionen aus der Überzeugung zusammengetan haben, dass die Förderung einer ganzheitlichen, nachhaltigen und innovativen MINT-Bildung in Deutschland notwendig ist. Die angesprochenen Fragen rund um Transfer und Kooperationen werden insbesondere von unseren wissenschaftsnahen Mitgliedern diskutiert wie beispielsweise der Hochschulrektorenkonferenz, der Hochschulallianz für den Mittelstand und dem Stifterverband.

Janina Kugel: Wenn ich mir etwas von Hochschulen wünschen könnte, wäre es ein Ausbau digitaler Weiterbildungsangebote für Menschen jeden Alters, nicht nur für Studierende. Denn Lernen und Bildung muss heute ein ganzes Leben lang erfolgen. Diese Einstellung muss nicht nur frühzeitig verankert werden bei Menschen, sie muss auch bis ins hohe Alter aufrecht erhalten bleiben. Damit (Weiter-)Bildung allen Menschen zur Verfügung steht, muss sie aber nicht nur zielgruppengerecht aufbereitet sein. Sie muss vor allem zugänglich und bezahlbar sein. In diesem Zusammenhang sehe ich natürlich auch Unternehmen in der Pflicht, ihren Mitarbeitern entsprechende Weiterbildungsangebote bereitzustellen. Wobei klar sein muss: Eine zweitägige Schulung pro Jahr reicht nicht. Menschen sollten heute idealerweise jeden Tag etwas Neues dazulernen, auch on-the-job. Großunternehmen haben da oft gute Möglichkeiten, vielfältige und zeitgemäße Angebote anzubieten, aber kleinere Unternehmen haben diese Kapazitäten nicht immer. Hochschulen sind deshalb nach wie vor wahnsinnig wichtig.

Nathalie von Siemens: Wir benötigen in Deutschland offene, frei zur Verfügung stehende Bildungsangebote. Auf dem Medienportal der Siemens Stiftung beispielsweise stellen wir Lehrkräften und jedem Internetnutzer sogenannte digitale Open Educational Resources (OER) zur Verfügung, die von Lehrkräften als Unterrichtsmaterialien eingesetzt werden, sich aber auch für das selbstbestimmte Lernen eignen. Lebenslanges Lernen beginnt früh und muss über die gesamte Bildungskette gelebt werden, damit es wirklich funktionieren kann. 

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