Lehre

(Da-)Sein oder nicht (Da-)Sein? - Teil 1

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(Foto: istock/leaf)
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Die Politik hat in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vor einiger Zeit neue Hochschulgesetze erlassen und darin mit der Abschaffung der Anwesenheitspflicht in vielen Veranstaltungen für große Unruhe unter den Professoren und den Studierenden gesorgt. Es ist schon höchst bemerkenswert, dass sich Landesregierungen direkt darum sorgen, ob Studierende in Lehrveranstaltungen anwesend sein müssen, und dies zum Anlass nehmen, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Professoren bedauern, dass man nun Studierende nicht mehr zu bestimmten Lehrveranstaltungen „zwingen“ könne und mithin das Leistungsniveau noch weiter absinken würde. Selbstverständlich ist dies schon seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten der Fall, aber jetzt ginge wirklich alles den Bach runter. Die Studierenden wiederum können gar nicht verstehen, dass es dann trotzdem noch die Pflicht gibt, an diversen Veranstaltungen teilzunehmen. Die gerade per Gesetz gewonnene Freiheit möchte man nicht mehr aufgeben und daher pochen die studentischen Vertreter mit allem Nachdruck auf eine generelle Aufhebung der Anwesenheitspflicht. Beide Haltungen sind bei genauerer Betrachtung völlig unverständlich, denn es hat sich eigentlich überhaupt nichts geändert! Schon gar nicht war es nötig, dass sich hier Ministerien direkt in den Lehrbetrieb von Universitäten einmischen. Als ob es sonst keine Probleme gäbe …

Warum hat sich eigentlich überhaupt nichts geändert? Weil es schon immer die Regel war, dass man bei einer Veranstaltung anwesend sein musste, in der ein eigener Beitrag zu erbringen ist. So ist es klar, dass man bei einem Praktikum oder einer Exkursion anwesend sein muss. Das ist der einfachste Fall. In einer Vorlesung kann es hingegen keine Anwesenheitspflicht geben, denn dies ist nur ein Angebot an Studierende, den Stoff von einem Dozenten aufbereitet zu bekommen. Wenn die Vorlesung schlecht ist, dann geht man eben nicht hin und lernt in Eigenregie für die Prüfungen. Auch dies ist noch ein einfacher Fall, obwohl man immer wieder beobachten kann, wie Dozenten selbst in großen Vorlesungen versuchen, unterschwellige Anwesenheitspflichten zu erlassen. Die dabei vom Dozenten entwickelte Kreativität ist schon beachtlich. Um an die Materialien zur Vorlesung heranzukommen, werden beispielsweise wechselnde Passwörter immer nur am Ende und nur in der Veranstaltung selbst bekannt gegeben. Man muss also hingehen, um an die Vorlesungsmaterialien zu kommen. Kein schlechter Trick, um seine eigene Veranstaltung, die ansonsten gähnend leer wäre, zu füllen. Man wünschte sich zwar eher, dass der Dozent diese Kreativität in die Lehrveranstaltung selbst investiert, aber dennoch sind auch dies noch die einfachen Fälle.

Metin Tolan
Metin Tolan (Foto:Jörg Heupel)
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Metin Tolan

Metin Tolan schreibt auf MERTON regelmäßig über Wissenschaft und Hochschule. Als Prorektor Studium und als Professor für Experimentelle Physik an der TU Dortmund hat er unmittelbare Einblicke in die Untiefen des wissenschaftlichen Großbetriebs. Als Forscher beschäftigt er sich mit dem Verhalten von Polymeren, Flüssigkeiten oder Biomaterialien. Der Stifterverband und die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben ihn 2013 mit dem Communicator-Preis für gute Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet.

Komplizierter ist es da schon bei Seminaren. Wenn diese ausschließlich von einem Dozenten gehalten werden und die Studierenden keinen eigenen Beitrag leisten, dann kann es hier selbstverständlich auch keine Anwesenheitspflicht geben. Auch das war schon immer so. Das ändert sich aber, wenn im Rahmen des Seminars eine Diskussion über den Stoff stattfindet, der Stoff also reflektiert wird. Dann muss man natürlich anwesend sein, um daran teilzunehmen, erst recht, wenn dies in die Notengebung mit einfließt und dies vorher auch angekündigt wird. Aber für all dies braucht man wahrlich keinen Gesetzgeber, sondern nur eine ganz kleine Portion gesunden Menschenverstand.

„Für eine sinnvolle Anwesenheitsregelung braucht man wahrlich keinen Gesetzgeber, sondern nur eine ganz kleine Portion gesunden Menschenverstand. ”

Metin Tolan

Auch das umgekehrte Phänomen ist eigentlich nicht zu verstehen: Studierende beklagen sich sehr oft darüber, dass es zu wenige Seminare für ihr Fach gibt. Dies ist ein Dauerthema an allen Universitäten in Deutschland, insbesondere in den Geisteswissenschaften. Gleichzeitig kämpfen ihre Vertreter aber dafür, dass es in eben diesen Seminaren keine Anwesenheitspflicht mehr geben sollte! Ja was denn nun? Man möchte also mehr Seminare haben, um dann in letzter Konsequenz doch nicht hinzugehen. Das ist ein Widerspruch in sich, der nur allzu deutlich macht, dass das Thema „Anwesenheitspflicht“ im Augenblick an manchen Universitäten völlig zu Unrecht zu großen Streitigkeiten zwischen Studierenden und Professoren führt, zumal der NRW-Gesetzgeber hier den wirklich bemerkenswerten Satz anführt: „Es ist sinnvoller, wenn Lehrveranstaltungen aufgrund ihrer inhaltlichen und didaktischen Qualität und nicht wegen rechtlicher Zwänge nachgefragt werden.“ Wow! Wer hätte das gedacht! Der Gesetzgeber zeigt sich hier mal wieder von seiner allerbesten Seite. Als ob es sonst keine Probleme gäbe …

Dem Thema „Anwesenheitspflicht“ ist vom Gesetzgeber in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Ist das wirklich ein Problem, welches man so regeln musste? Außer dass der gesunde Menschenverstand nun einmal niedergeschrieben und eine völlig absurde Diskussion an den Universitäten losgetreten wurde, wurde rein gar nichts erreicht. Die Politik hätte sich aber sehr wohl mit einem wichtigen Aspekt des Themas „Anwesenheitspflicht“ befassen können, wenn sie sich getraut hätte. Was ist damit gemeint? Das ist mir im Augenblick aber noch zu „heiß“, ich werde es daher irgendwann in einem zweiten Teil genauer darlegen.

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