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Wissenschafts- und Innovations­system: Die nächste Ausbaustufe zünden

14.10.2021

Appell von 24 Wissenschaftsorganisationen an Bund und Länder

Gemeinsam mit 23 deutschen Wissenschaftsorganisationen richtet der Stifterverband mit der Stellungnahme "Wissenschafts- und Innovationssystem: Die nächste Aufbaustufe zünden" den Appell an die Bundes- und Landespolitik, jetzt die notwendigen Rahmenbedingungen für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen für unsere Gesellschaft – etwa Gesundheit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Mobilität, Energieversorgung, Digitalisierung oder Ernährung – zu schaffen.

Die Pandemie hat vor Augen geführt, wie wichtig Wissenschaft und Innovation für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft sind. Hierfür sind sechs Handlungsfelder zentral:

  • Forschung und Innovation prioritär behandeln
  • Schneller, entschlossener und vernetzter handeln
  • Talente gewinnen und exzellente Ausstattung sicherstellen
  • Start-up-Förderung und Transfer vorantreiben
  • Digitale Transformation voranbringen
  • Forschung und Innovation zu Kernthemen der EU machen

 

Die Stellungnahme im Wortlaut

In nur neun Monaten hat das deutsche Biotech-Unternehmen BioNTech mit dem Pharma-Konzern Pfizer einen Impfstoff gegen SARS-CoV 2 entwickelt und auf den Markt gebracht. Es ist die schnellste Impfstoffentwicklung der Geschichte, die auf jahrzehntelanger Grundlagenforschung aufbaut. Seit über 20 Jahren wird insbesondere in Deutschland an mRNA-Technologie geforscht und gearbeitet, unterstützt durch öffentliche und private Förderer. Mit Beginn der Pandemie haben Wirtschaft und Wissenschaft, in gemeinsamer Kraftanstrengung mit der Politik, ein hocheffektives und sicheres Vakzin entwickelt, das inzwischen unzählige Menschen schützt. Die Erfolgsgeschichte von BioNTech zeigt, welche Höchstleistungen in Deutschland in Extremsituationen erbracht werden können. Was hier funktioniert hat, funktioniert leider keineswegs immer. Tatsächlich ist BioNTech ein Ausnahmebeispiel – und verweist damit auf Defizite im Normalbetrieb der deutschen Wissenschafts- und Innovationslandschaft.

Wir müssen aus der Erfahrung der COVID-19-Pandemie die richtigen Schlüsse für Deutschland ziehen. Es gilt schnell zu lernen, Lücken im Innovationssystem zu schließen und künftige Wertschöpfung zu sichern. Nur so können wir der Verantwortung für unsere Gesellschaft und künftige Generationen gerecht werden. Nur so schaffen und erhalten wir die Spielräume, die wir brauchen, um auf künftige Umwälzungen und Herausforderungen reagieren zu können.
 
Die Bewältigung der großen Herausforderungen – etwa Gesundheit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Mobilität, Energieversorgung, Digitalisierung oder Ernährung – wird nur gelingen, wenn Wissenschaft und Wirtschaft, unterstützt von einer agilen Verwaltung, in einem exzellenten Innovationsökosystem gemeinsam Lösungen entwickeln und zur Anwendung bringen.

Dafür müssen wir den Wissenschaftsstandort zukunftsfähig machen. Wir werben dafür, Innovationen als Chancen zu sehen und auf Technologieoffenheit als Leitprinzip zu setzen. Deutschland braucht nicht nur eine starke und verlässliche öffentliche Finanzierung von Wissenschaft und Innovation, sondern dazu passende, agile Rahmenbedingungen: Schlanke, schnelle, digitale und transparente Verfahren, um den Forschungsstandort nachhaltig zu stärken.

Bei all dem gilt: Wissenschaft ist nicht denkbar ohne ethische Leitprinzipien und ohne Freiheit. Wissenschaftsfreiheit ist ein nicht verhandelbarer Grundwert Europas. Wo immer in Europa und weltweit die Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern behindert oder eingeschränkt wird, braucht es das entschiedene politische und gesellschaftliche Eintreten für Wissenschaftsfreiheit.

 
Alle unterzeichnenden Organisationen appellieren an Bund und Länder:  

Die Pandemie hat vor Augen geführt, wie wichtig Wissenschaft und Innovation für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft sind. Wir haben zugleich gesehen, wie groß das Potenzial Deutschlands in diesem Bereich ist. Nutzen wir diese Einsicht: Zünden wir die nächste Ausbaustufe unseres Wissenschafts- und Innovationssystems! Machen wir es agiler, ambitionierter und resilienter. Sechs Handlungsfelder sind dafür zentral:
 
  
1. Forschung und Innovation prioritär behandeln

  • Forschung und Innovation müssen höchste Priorität für die Bundesregierung haben. Der zukünftige Bundeskanzler muss dies zur Chefsache machen.
  • Die Zeit ist reif für ein vom Kanzleramt geführtes „Innovationskabinett“ oder eine andere durchsetzungsstarke Einheit im Kanzleramt. Die Themen der Zukunft müssen endlich ressortübergreifend koordiniert und abgestimmt werden. Hierfür bedarf es eines Gremiums bzw. einer Einheit, die für eine ressortübergreifende Innovationsstrategie mit klaren Missionen und daraus abgeleiteten, messbaren Zielen verantwortlich ist. Die Verantwortung für die Umsetzung muss politisch klar geregelt sein. Statt einer Vorfestlegung auf bestimmte Maßnahmen bedarf es eines offenen Ansatzes für unterschiedliche Lösungswege.
  • Deutschland muss das 3,5-Prozent-Ziel für Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2025 erreichen. Gleichzeitig müssen größte Anstrengungen unternommen werden, die Mittel zielführend zu investieren. Die Pandemiekosten dürfen nicht zu einem Einbrechen der Wissenschafts- und Forschungsförderbudgets führen – insbesondere mit Blick auf die Grundfinanzierung der Hochschulen.  
  • Grundsätzlich bedarf es einer ausgewogenen Balance zwischen allen Bereichen der Forschung. Die erkenntnisgeleitete Forschung ist für den gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und technischen Fortschritt von zentraler Bedeutung. Die Instrumente zur Nutzung ihrer Ergebnisse müssen zugleich weiter gestärkt werden.
     

2. Schneller, entschlossener und vernetzter handeln

  • Deutschland braucht mehr Geschwindigkeit bei der Entwicklung und Nutzung von Zukunftstechnologien, um international vorn mitspielen zu können. Dazu kann die öffentliche Beschaffung einen wichtigen Beitrag leisten, deren Rahmenbedingungen innovationsorientierter zu gestalten sind.
  • Open-Innovation-Maßnahmen und die Prinzipien offener Wissenschaft müssen mehr Unterstützung erfahren. Von Bedeutung ist dabei, den nötigen IP-Schutz nicht aus dem Blick zu verlieren und innovationsfördernd einzusetzen.
  • Exzellente und dynamische Innovationsökosysteme sind kraftvoll zu fördern. Dies schließt den Auf- und Ausbau von Spitzenstandorten für Forschung und Entwicklung als internationale Leuchttürme mit ein. Für den Mittelstand sind breitenwirksame Bottom-up-Ansätze wie die Industrielle Gemeinschaftsforschung zentral.
  • Die Forschungs- und Innovationspolitik muss viel agiler werden. Es kommt darauf an, Fördermaßnahmen wesentlich variabler an neue Entwicklungen anzupassen und schneller umzusetzen. Bürokratische Hürden in den Antragsverfahren der Programmförderung müssen abgebaut und die Verfahren selbst deutlich verschlankt werden.
     

3. Talente gewinnen und exzellente Ausstattung sicherstellen

  • Der Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland muss noch attraktiver für Talente aus aller Welt werden. Hierzu gilt es, die Rahmenbedingungen zur Gewinnung und zum Halten herausragender Forscherinnen und Forscher sowie Daten- und Digitalisierungsexpertinnen und -experten aller Karrierestufen weiter zu verbessern.
  • Diversität und Chancengerechtigkeit sind noch energischer und zielführender zu fördern. Die COVID-19-Pandemie darf keine Ungerechtigkeiten verstärken oder neu produzieren. Diese Forderung richtet sich nicht nur an Legislative und Exekutive, sondern auch an die Akteurinnen und Akteure des Forschungs- und Innovationssystems selbst.
  • Exzellente Forschung und die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft braucht innovative, vernetzte und international konkurrenzfähige Forschungsinfrastrukturen. Diese sind Magnete für Kooperationen und Talente aus aller Welt. Nicht zuletzt mit Blick auf die Gestaltung des digitalen Wandels sind sie strukturell und finanziell zu stärken und nachhaltig zu betreiben.
     

4. Start-up-Förderung und Transfer vorantreiben

  • Technologieorientierte Ausgründungen müssen effizienter gefördert werden. Hierzu sind die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen adäquat und planvoll zu verbessern sowie ihre Freiheiten zu erhöhen. Dazu gehört ebenfalls ein zügiger Ausbau von Technology Transfer Offices in akademischen Einrichtungen.
  • Darüber hinaus ist die langfristige Förderung von Start-ups und Industrie-Innovationen auszubauen, unter anderem im Rahmen des Zukunftsfonds mit neuen Risiko- und Wachstumskapitalquellen. Bereits bestehende Programme sind konsequent zu stärken und steuerliche Rahmenbedingungen zu verbessern.
  • Die steuerliche Forschungszulage sollte finanziell ausgeweitet und bestehende Einschränkungen gegenüber verbundenen Unternehmen aufgehoben werden.
  • Zur Bewältigung der enormen ökonomischen, ökologischen und technologischen Herausforderungen muss der Erkenntnistransfer durch eine intensivere Vernetzung der Innovationskräfte in der Grundlagenforschung, der anwendungsnahen und der industriellen Forschung ausgeweitet werden. Zu den Instrumenten gehören Reallabore, Demonstrationsanlagen und Experimentierräume, in denen neben Technologien und Produkten auch Prozess- und soziale Innovationen erprobt werden können. Für die Kooperation von Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie deren Teilkörperschaften ist eine Befreiung von der Verpflichtung zur Umsatzsteuer entscheidend.
     

5. Digitale Transformation voranbringen

  • Deutschland muss zum Vorreiter in digitaler und datenbasierter Forschung und Lehre werden. Wichtige Aspekte dabei sind die digitale Datennutzbarmachung für Wissenschaft und Wirtschaft, die breite Nutzung von Methoden der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens, Data Science und Data Literacy sowie die Aus- und Weiterbildung von Data Scientists.
  • Initiativen wie die Nationale Forschungsdateninfrastruktur, das Nationale Hochleistungsrechnen, GAIA-X sowie die Erforschung und Entwicklung des Quantencomputings sind nachhaltig und zügig umzusetzen. Grundlegend dafür sind unter anderem schnelle, flächendeckend verfügbare und stabile Telekommunikationsnetze.
  • Der jüngst vollzogene Qualitätssprung in der digitalen Lehre muss durch eine kontinuierliche Förderung verstetigt und ausgebaut werden.
     

6. Forschung und Innovation zu Kernthemen der EU machen

  • Die Zukunft des europäischen Modells und seiner Werte hängt entscheidend von unserer Stärke in Wissenschaft und Innovation ab. Wenn die EU auch in den nächsten Jahren noch mit den USA und China konkurrieren will, braucht sie eine mutigere, ambitioniertere Forschungs- und Innovationspolitik und zukunftsweisende Budgets.
  • Technologische und digitale Souveränität sind Schlüssel für die Zukunft der EU. Mithilfe einer Bestandsaufnahme sollte ermittelt werden, wo die EU bei Schlüsseltechnologien und strategisch wichtigen Wertschöpfungsketten steht. Identifizierte Schwachstellen sind gezielt zu beheben.
  • Europas Forschungsförderung sollte auch künftig vom Ziel der Exzellenz geleitet sein.
  • Die Important Projects of Common European Interests (IPCEI) sollten transparent weiterentwickelt werden, damit sie ihre Wirkung als Förderinstrument für Technologien mit hohen Reifegraden, beispielsweise im Bereich digitale Technologien oder Technologien für eine treibhausgasneutrale Industrie, voll entfalten können. Die Abstimmung mit anderen europäischen Instrumenten, wie dem Innovation Fund oder dem European Innovation Council muss erfolgen. Die Vorhaben im Rahmen des European Strategy Forum on Research Infrastructures (ESFRI) müssen schneller umgesetzt werden.'
  • Akademische Mobilität und Zusammenarbeit in Europa sind von größter Bedeutung für die Stärke des Forschungsstandorts. Sie müssen unbedingt gefördert werden – auch mit Großbritannien und der Schweiz. Auch jenseits Europas sind internationale Kooperationen grundlegend für exzellente Wissenschaft und müssen konsequent vorangetrieben werden. Die Grundwerte europäischer Wissenschaft, allen voran die Wissenschaftsfreiheit, sind unverhandelbar.