Innovationssystem

Warum wir so dringend eine andere Wirtschaftswissenschaft brauchen

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Foto: iStock/ urfinguss
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In keinem anderen Fach macht sich wissenschaftliche Selbstbeschränkung so schmerzlich bemerkbar wie in den Wirtschaftswissenschaften. Dabei müssten gerade in Zeiten des Umbruchs die Wirtschaftswissenschaften zur „Möglichkeitswissenschaft“ werden.

Studierende klagen schon lange über die an den Hochschulen gelehrte ökonomische Wissenschaft, der Inspiration und intellektuelle Vielfalt fehlt, die ihnen keine Antworten mehr auf jene Fragen gibt, die sie ins Ökonomiestudium geführt hatten.

Längst kommen die innovativen Vorschläge zur Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems aus Nachbardisziplinen wie den Sozialwissenschaften, von den amerikanischen Vordenkern der Informationsgesellschaft, aus der kritischen Zivilgesellschaft oder von den Vorständen großer Konzerne der Informationsgesellschaft.

Mehr als Systemwissen

Die Wirtschaftswissenschaften tragen wenig zu diesen Debatten bei. Wie ist das zu erklären? Es hängt mit dem vorherrschenden Wissenschaftsverständnis der Disziplin zusammen: Orientiert am Leitbild der Naturwissenschaft, konzentrieren sich die Wirtschaftswissenschaften auf die Produktion von Systemwissen. Basierend auf Grundannahmen zum menschlichen Verhalten (die in letzter Zeit durch Rückgriffe auf die Psychologie besser werden) und gestützt auf – in ihrer Aussagekraft in einer komplexen Welt oft beschränkte – (Gleich-)Gewichtsmodelle versuchen sie, wirtschaftliches Handeln auf Mikro- und Makroebene zu beschreiben. Damit erklären sie, wie wirtschaftliche Prozesse unter heutigen Bedingungen funktionieren. Und das auch nur unzureichend, wie die Finanzkrise 2008 gezeigt hat, die weite Teile der Wirtschaftswissenschaften genauso überraschte wie Politik und Gesellschaft.

Doch für eine Disziplin, die so entscheidend für die Gestaltung unserer Lebenswirklichkeit ist, reicht eine Beschränkung auf Systemwissen nicht aus. Als Gestaltungswissenschaft muss sich ökonomische Wissenschaft zu ihrem performativen, das heißt zu ihrem Gesellschaften prägenden Charakter bekennen. Neben Systemwissen muss sie auch Zielwissen und Transformations­wissen erzeugen.

Wirtschaftswissenschaften sollten etwas zu möglichen und wünschenswerten Zukünften sagen. Sie müssen wieder Möglichkeits­wissenschaft werden: Wie kann eine Ökonomie aussehen, die die Produktivitäts­fortschritte der Informationswirtschaft für einen Wohlstand nutzt, der bei möglichst vielen Menschen ankommt? Sind Postwachstums­gesellschaften denkbar, die dennoch eine hohe Lebensqualität für zehn Milliarden Menschen innerhalb der planetaren Grenzen schaffen? Wie sehen Entwicklungs­perspektiven für einen zeitgemäßen Kapitalismus aus?

 

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Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)
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Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Ein solches Zielwissen ist normativ, die zugrunde liegenden Normen bedürfen der Explizierung und der Begründung. Aber auch das ist eine wissenschaftliche Aufgabe. Wer sich dieser Aufgabe entzieht und sich auf Wertfreiheit zurückzieht, ist dennoch hoch normativ: Denn er stabilisiert damit den Status quo und die Orientierungslosigkeit gegenüber kommenden Entwicklungen.

„Transformationswissen“ bedeutet, den interdisziplinären und transdisziplinären Brückenschlag zu wagen. Es heißt, als Disziplin darüber Rechenschaft abzulegen, welche vermeintlichen ökonomischen First-Best-Lösungen unter aktuellen politischen und gesellschaftlichen Transformationsbedingungen schnell an Grenzen geraten. Eine an Transformationsprozessen mitwirkende Wirtschaftswissenschaft muss sich in diese schwierigen Debatten einbringen und sie mit Beiträgen unterstützen, die vermeintliche ökonomische Second- und Third-Best-Lösungen zu effektiven Antworten machen. Auch wenn es für Ökonomen schwer anzuerkennen ist: Vermutlich retten wir diese Welt am Ende aus ökonomischer Sicht nur ineffizient. Aber wichtig ist, dass wir sie retten, das heißt effektive Antworten auf die globalen gesellschaftlichen Herausforderungen wie den Klimawandel und die nachhaltigen Entwicklungsziele geben.

„Vermutlich retten wir diese Welt am Ende aus ökonomischer Sicht nur ineffizient. Aber wichtig ist, dass wir sie retten. ”

Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)
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Uwe Schneidewind

Transformative Wirtschaftswissenschaft

Diese Entwicklungsperspektiven sind der Grund dafür, warum über 30 Wirtschaftswissenschaftler den Aufruf zu einer transformativen Wirtschaftswissenschaft gestartet haben und damit die Debatte über die Zukunft der Wirtschaftswissenschaften in unterschiedlichen Formaten befördern. Dabei geht es nicht nur um inhaltliche und methodische Fragen, sondern auch um die institutionelle Frage, wo in einer Landschaft der wissenschaftlichen Monokultur Orte für eine wieder pluralistischere Wirtschaftswissenschaft entstehen können, die ihrer Orientierungsaufgabe als Möglichkeitswissenschaft gerecht wird.

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