Lernorte

Digitale Praxis

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Impression von der HFD Summer School (Foto: Gesine Born)
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Digitales Tagebuch des Dr. D.: Zehnter Eintrag, September 2019

Es wird weiter sehr viel über die Digitalisierung der Bildung gesprochen. Die Diskussion wirkt vielschichtig und unterschiedliche Menschen beteiligen sich daran, wie etwa in der Juliausgabe des Magazins Aus Politik und Zeitgeschehen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Nachdem mit dem Digitalpakt eine Reihe von Fördermaßnahmen für eine moderne Infrastruktur auf den Weg gebracht wurde, stellen sich grundlegende Fragen. Entsteht durch die Digitalisierung etwas Neues oder ist es der viel beschworene alte Wein in neuen, digitalen Schläuchen? Wie auch immer  – klar scheint zu sein, dass es (neue) didaktische Konzepte braucht. Ganz so neu ist die Forderung nach „digitaler Didaktik“ aber nicht, wie ein Blick in dieses Editorial aus dem Jahr 2015 der Werkstatt bpb zeigt. Damals (und auch heute) sind es Schlagzeilen zum Technikeinsatz in der Schule (Tablets, interaktive Whiteboards …), die gleichzeitig auf Ablehnung und Zustimmung stoßen. Wer am lautesten schreit, der findet Gehör für seine Extrempositionen. Sachliche, an der Pädagogik und Didaktik ausgerichtete Debatten schaffen das weniger gut.

Auch bei den Hochschulen zeigt sich eine große Einigkeit, was die Bedeutung der Digitalisierung für Lehre, Forschung und Verwaltung betrifft. Das geht aus der Schwerpunktstudie „Digitalisierung der Hochschulen“ hervor, die das HIS-Institut für Hochschulentwicklung im Auftrag der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) Anfang 2019 erstellt hat. Die tatsächliche Umsetzung ist allerdings sehr heterogen und einzig das berühmt-berüchtigte Learning-Management-System (LMS) ist fast flächendeckend an deutschen Hochschulen verbreitet. Das soll sich mit der Bildungscloud, die aktuell intensiv-kontrovers für den Schulbereich diskutiert wird, ändern.

„Lernen wird auf die von der Plattform bereitgestellten Features beschränkt.“

Markus Deimann

Noch bestimmen datenschutzrechtliche Fragen und technologische Aspekte (zum Beispiel Austauschbarkeit von Formaten, gemeinsames Arbeiten an Dokumenten) die Debatte. Doch eigentlich geht es darum, „die Potenziale der Digitalisierung für das Lernen auszuschöpfen“. Die Potenziale sind jedoch eng mit der zur Verfügung stehenden Technik verknüpft und legen die didaktischen Möglichkeiten im Vorfeld fest. Das ist bereits auf der sprachlichen Ebene erkennbar. So ist die „Lern“-Plattform auf die Verwaltung und Organisation der Lehre und damit auf das Managen von Lernen ausgerichtet. Der einseitige Fokus auf Lernen vernachlässigt andere pädagogische und soziokulturelle Faktoren wie Sozialisation. Lernen wird damit auf die von der Plattform bereitgestellten Features beschränkt. Was darüber hinaus in das World Wide Web geht, kann nicht gewertet werden.

Auch ist bestimmten Lern-Apps eine behavioristische Vorstellung des Lernens eingeschrieben, bei der es um Belohnung und Bestrafung geht. Dies steht im Widerspruch zu pädagogischen Ansätzen, die für Partizipation und Emanzipation stehen – oftmals ohne dass sich die Lehrenden darüber bewusst sind. Lernwerkzeuge oder „Tools“ werden vielmehr als reine Instrumente zur Verwirklichung pädagogischer Ziele eingesetzt, ohne dass sich die Nutzer über die Normen und Werte, die der Technik eingeschrieben sind, Gedanken machen.

Aber das ist nicht der eigentliche Punkt, um den es mir hier geht. Mir geht es um die Praxis. Damit meine ich zum einen die vielen Maßnahmen, Initiativen und Projekte, die sich bereits mit der Digitalisierung beziehungsweise mit E-Learning beschäftigen. Beispielhaften Einblick bietet die jährliche HFD Summer School, ein bundesweit agierendes Netzwerk, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und angesiedelt beim Stifterverband. Es sind die viel beschworenen Einzeltäter, die, angetrieben von pädagogischen Idealen, Technologien in kleinen und lokalen Settings einsetzen. Diese Vorhaben fliegen eher unter dem Radar, als dass sie als Leuchtturm für die gesamte Hochschule fungieren. Entsprechend gering ist das Prestige und entsprechend wichtig ist der Austausch unter Gleichgesinnten wie bei der HFD Summer School.

Der Kolumnist bei der Arbeit (in der HFD Summer School)
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Dr. D. auf der HFD Summer School (Foto: Gesine Born)
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Eine andere Form der Praxis, bei der Medien eine große Rolle spielen, haben wir vor in Zusammenhang mit dem Video „Die Zerstörung der CDU“ des YouTubers Rezo erfahren. In knapp einer Stunde wird eine umfassende Kritik an der herrschenden Politik, unter anderem im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der sozialen Gerechtigkeit, artikuliert. Rezo spricht die Zielgruppe der unter 30-Jährigen direkt und mit der für YouTube typischen Sprache an und bietet unterschiedliche digitale Räume für Diskussionen. Das betrifft die Kommentarspalte unter dem Video sowie ein offen zugängliches Google-Dokument, in dem er seine Quellen genau darlegt und um Korrektur bittet. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Menschen wie Rezo mit digitalen Medien in sozialen Kontexten umgehen, stellt eine Form der Praxis dar, über die nicht so viel gesprochen wird.

„Diese Selbstverständlichkeit, mit der Menschen wie Rezo mit digitalen Medien in sozialen Kontexten umgehen, stellt eine Form der Praxis dar, über die nicht so viel gesprochen wird. “

Markus Deimann

Es geht um einen Zustand, der in der Kunst und Musik als „postdigital“ bezeichnet wird. Wir sind in unserem Alltags- und Berufsleben von vielen unterschiedlichen Informations- und Kommunikationstechnologien umgeben, die zusammen mit den im Hintergrund laufenden Algorithmen bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Durchdringung von digitalen Medien und Technologien ist mittlerweile so hoch und selbstverständlich, dass wir sie nur dann bemerken, wenn bestimmte Dienste wie Facebook einmal nicht erreichbar sind. Ähnlich wie die Telefonzellen aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind, verschwinden auch Software, Technologien und Infrastruktur aus der (öffentlichen) Wahrnehmung. Das heißt jedoch nicht, dass deren Bedeutung geringer wird. Im Gegenteil. Postdigital meint somit auch nicht, dass nach der Digitalisierung etwas anderes, Nichtdigitales kommt, sondern bezeichnet den Zustand, in dem wir jetzt, 2019, leben. Am Beispiel des Smartphones lassen sich die vielfältigen und unseren Alltag betreffenden Veränderungen verdeutlichen.

In der Konstellation von Smartphone und mobilem Internet entstehen neue Praktiken. Das Selfie ist so beliebt geworden, dass sich Städte wie Sydney aufgerufen fühlen, die Selbstposierer vor zu gefährlichen Spots zu warnen. Der natürliche Narzissmus wird durch Technologien befördert und trifft auf Kontexte, die für Selbstporträts eher ungeeignet sind. Das führt zu einer stärkeren Regulierung durch Behörden wie in Sydney. Am Beispiel von positionsbezogenen Spielen wie Pokémon GO lassen sich weitere Merkmale der neuen Praktiken erkennen. Da ist zunächst der Einsatz von Augmented Reality (AR), mit der die Wahrnehmung der Spieler um eine zusätzliche Ebene erweitert wird. Man sieht tatsächlich das, was andere nicht sehen. Für einen erfolgreichen Spielverlauf sind gemeinschaftliche Aktionen wichtig und so treffen sich zum Beispiel Spieler an bekannten Punkten (Hotspots), um so kurzfristig viel schneller als gewöhnlich voranzukommen. Mit der Festlegung von Hotspots lassen sich Orte aufgrund ihrer kulturellen oder historischen Bedeutung hervorheben und Touristen wie in Köln oder Menschen aus der Umgebung wie in München anlocken. Während des Spielens entsteht neues Wissen, etwa in Form von Lösungsstrategien. Dieses Wissen ist ein anderes als das, was typischerweise im Zusammenhang von Trainings zur Förderung der Medienkompetenz vermittelt wird. Es ist aus der Praxis abgeleitet und für die Praxis bestimmt.

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Illustration: Irene Sackmann
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Bildung trotz(t) Digitalität

Markus Deimann beschäftigt sich seit 2001 mit Bildung und Digitalisierung. Er arbeitete an verschiedenen Hochschulen und promovierte und habilitierte im Fach Bildungswissenschaft. Er provoziert gerne mit Texten, Vorträgen oder im Podcast „Feierabendbier Open Education“. Es geht ihm um eine sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Technik, jenseits von Hype und Untergangsphantasien. Seit 2017 gehört er zum Kernteam des Netzwerks für die Hochschullehre im Hochschulforum Digitalisierung (HFD). Auf MERTON schreibt er als Dr. D. eine regelmäßige Kolumne mit dem vieldeutigen Titel Bildung trotz(t) Digitalität. 

Markus Deimann auf Twitter.

Ein solches Praxiswissen ist hochrelevant für das, was ich eingangs mit der Digitalisierung von Bildung diskutiert habe. Es sichert, dass Maßnahmen und Programme auch greifen und ihre Wirkung entfalten können. Kulturelle und soziale Rahmenbedingungen werden dadurch nicht als Störvariable aufgefasst, sondern als vermittelnde Größe. So kann die praktizierte Lehrkultur, die an der Basis entsteht, mit der von oben vorgegebenen Strategie kollidieren. Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass die neu gegründete Technische Universität Nürnberg hauptsächlich digitale Lehre in Form des Inverted-Classroom-Modells anbieten wird. Dies birgt die Gefahr, mit einem monokulturellen didaktischen Ansatz die Praxis zu sehr zu beschneiden. Abweichungen vom vorgegebenen Modell können nicht produktiv genutzt werden, sondern werden als anachronistisch abgetan.

Wahrscheinlich ist es sinnvoller, dass wir gelassener werden und uns weniger von den Revolutionen und Untergangsfantasien den Blick auf die bunte, digitale Praxis verblenden lassen. Denn hier – und nur hier – können wir erfahren, wie das mit der Digitalisierung funktioniert. 

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