Gerald Hüther: Schule und Gesellschaft – die Radikalkritik

Gerald Hüther: Schule und Gesellschaft – die Radikalkritik

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Gerald Hüther: Schule und Gesellschaft - die Radikalkritik
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Nicht Eltern, die gegen die Schulpflicht ihrer Kinder rebellieren, bedrohen unser Bildungssystem. Schule in ihrer jetzigen Form funktioniere einfach nicht mehr, erklärt Gerald Hüther, Hirnforscher an der Universität Göttingen. Ein allgemein akzeptiertes Beziehungsmuster, das andere Menschen zu Objekten degradiert, mache die Gesellschaft kaputt.

Produktion: Timur Diehn
Postproduktion: Christian Slezak
für den Bildungskanal des Stifterverbandes

Transkript des Videos

Eltern haben nicht so viel Zeit zu warten, die 20 Jahre oder wie lange das noch dauern mag, bis auch die letzte Schule in Deutschland verstanden hat, dass sie so nicht arbeiten kann.

Und deshalb gibt es jetzt immer mehr Eltern, die raus wollen aus diesem System. Die versuchen zu klagen gegen das, was wir in Deutschland als Unikat fast in Europa noch immer haben, eine Schulpflicht. Also, wenn ich eine Schulpflicht habe, dann mache ich die Kinder schon durch dieses Gesetz zu Objekten einer Beschulung. Und das ist ja das Furchtbarste, was einem überhaupt passieren kann, dass man junge Menschen fragt, Schüler fragt: Warum gehst du denn in die Schule? Und die einzige Antwort, die sie da wissen, heißt: Weil ich muss. Die Schule müsste ja ein Ort sein, wo die mit Begeisterung jeden Tag hingehen, weil draußen in dem realen Leben gibt es soviel gar nicht zu lernen wie es möglicherweise in der Schule zu lernen gäbe, wenn Schule so wäre wie sie sein sollte. Und da gibt es Widerstand. Leute, die sich gegen das Schulgesetz wehren und sagen: Ich schicke mein Kind gar nicht mehr in diese Schule, und andere, die versuchen, selber Schulen zu gründen, und Dritte, die dann ins Ausland ziehen, weil es dort kein Schulgesetz gibt. Also, da tut sich sehr viel in diesem Bereich an Wildwuchs, könnte man fast sagen. Der wird aber das Schulsystem nicht erschüttern. Das, was das Schulsystem zutiefst erschüttert, sind aus meiner Sicht zwei Phänomene. Das eine hatte ich eben schon angesprochen, das ist die Tatsache, dass die weiterführenden Einrichtungen, Universitäten und Unternehmen, mit dem, was Schule im Augenblick in Anführungsstrichen in dem alten Objektdenken produziert, nichts anfangen kann. Das ist doch, da muss einem doch als letztem Kultusminister eine Laterne im Hirn aufgehen, wenn die Deutsche Bahn sagt: Wir wollen keine Schulzeugnisse mehr sehen von denen, die bei uns anfangen wollen. Heute habe ich gelesen in der Zeitung: Der Marburger Bund sagt: Wir wollen, dass endlich Studenten, die sich für das Medizinstudium eignen, Medizin studieren können, und nicht welche, die den Numerus clausus erfüllen. Wow! Was heißt denn das? Plötzlich wird gesagt: Die Schulzensuren, die ihr verteilt und vergebt, sind nichts wert. Wir als Unternehmen können damit nichts anfangen, und die Universität kann damit im Grunde genommen auch nichts damit anfangen. Keiner ist glücklich damit. Und manche Universitäten wie die Zeppelin-Universität sagt: Wir verteilen jetzt mal ein Stipendium an Schulabbrecher, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass das häufig die kreativsten Leute sind, die in diesem starren Schulsystem versagen.

Ich rede gerne über Selbstorganisation, und hier organisiert sich die Schule eigentlich anhand der gesellschaftlichen Vorgaben. Und wenn Schule anders wäre, um es so auf den Punkt zu bringen und aus allen unseren Schulen tolle junge Leute herauskämen, die richtig gebildet wären und wüssten, was sie wollten, müssten wir unser Wirtschaftssystem zumachen. Weil die brauchen den ganzen Schrott nicht. Das heißt, wir brauchen möglichst schlechte Schulen, damit wir genügend Kunden für den Müll haben, den wir hier ihnen andrehen wollen. Das geht bis in die Politik. Wir brauchen möglichst unmündige Wähler, damit die ihre ständigen Diskussionsveranstaltungen im Fernsehen machen können. Die Schule dient sozusagen dazu, das zu produzieren, schafft aber natürlich in sich einen Widerspruch, weil jetzt aus der Schule auch zu wenig, also, es sind nicht mehr so viele Kinder wie früher. Früher hat man zehn Prozent Rahm abgeschöpft und hat gesagt: Die anderen können als Kunden sozusagen die Müllfahrer machen und die Fußballstadien füllen. Und da reichen uns die zehn Prozent oben, und jetzt kommen da oben nicht mehr genug an. Und deshalb sagen jetzt die Unternehmen: Es geht so nicht! Wir brauchen Führungskräfte. Und die Handwerksmeister sagen: Wir brauchen Leute, die eine Lehre machen wollen, und auf einmal funktioniert das System nicht mehr.

Was mit Sicherheit nicht funktioniert, um Schulen zu verändern, ist, dass man denen sagt, wie sie es machen sollen. Also, all diese schönen Programme, die wir uns, die sich die Politiker ausdenken, um Schulreformen in Gang zu bringen, führen bestenfalls dazu, dass diese Reformen umgesetzt werden, aber sie führen nicht dazu, dass sich in den Schulen der Geist verändert und die Haltungen verändern, die eigentlich das bestimmen, was in den Schulen passiert.

Was doch eigentlich jeder Mensch mit auf die Welt bringt, das ist die Lust am eigenen Entdecken und vielleicht dann auch noch am eigenen Gestalten. Und vielleicht, wenn's gut läuft, dann auch noch die Lust am gemeinsamen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten. Ich glaube, da sind alle Eltern auch schon zu der Erkenntnis gekommen, dass es kein Kind gibt, was diese Lust nicht mitbringt. Sonst würden die Kinder, glaube ich, sterben. Und das, was den Kindern am Anfang des Lebens hilft. Die primären Lernerfahrungen heißen also, das sind Erfahrungen in der lebendigen Beziehung zu einer anderen lebendigen Person. Und so müsste es eigentlich die ganze Zeit bleiben, weil das Kind nur in diesem Modus diese Fähigkeit erwirbt, das Wissen, was die andere Person hat, auch für sich zu übernehmen. Und leider passiert es uns in unserer Gesellschaft über kurz oder lang mit jedem Kind, das wir hier großziehen, dass das Kind diese Erfahrung gebrochen bekommt. Das heißt, es erlebt plötzlich, dass es so, wie es ist, nicht richtig ist. Dass es anders sein soll. Dass es mehr tun soll, sprich: Es wird Objekt der elterlichen Erwartungen und der elterlichen Erziehungsmaßnahmen, der elterlichen Hoffnungen und Wünsche und was es da noch so alles geben mag, auch der Bewertungen. Da wissen wir aus der Neurobiologie, dass das weh tut. Das heißt, unter solchen Bedingungen, wo man aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen wird, werden im Hirn die gleichen Netzwerke aktiviert, die auch dann aktiviert werden, wenn man dem Kind körperliche Schmerzen zufügt. Das ist sogar bei Erwachsenen noch so. Und da hat man das auch gezeigt. Das heißt, das Kind,d das das erste Mal erlebt, dass es so, wie es ist, nicht richtig ist, hat ein riesiges Problem. Es wird als Objekt behandelt, erlebt, das kann es noch nicht formulieren, aber erlebt es so. Und in dem Augenblick, wo das passiert, schrumpft die gesamte Wahrnehmung der Welt zusammen auf die Notwendigkeit zur Behebung dieses Problems. Das heißt, die ganze Aufmerksamkeit geht dann auf die Frage: Wie komme ich hier raus? Und da gibt es zwei Lösungen. Die eine Lösung ist die einfachste: Ich mache einfach den anderen auch zum Objekt meiner Bewertungen und sag: Blöde Mama! Dann ist das Kind in unserer Beziehungskultur angekommen. Das ist nicht angeboren. Das erwirbt es, weil es diese Erfahrung macht und dann diese Lösung findet und dann sich in unserer Welt auch bestätigt fühlt, weil es machen ja alle anderen auch so. Und dann gibt es Kinder, dien tatsächlich immer besser werden in der Manipulation anderer, und das ist die wesentliche Lernerfahrung, die sie machen. Auch in dem Bildungssystem geht's nur noch darum, andere zu manipulieren und besser zu werden als die anderen. Es geht eigentlich gar nicht um Mathematik oder Biologie oder Aneignung von Weltwissen. Es geht nur darum: Wie kann ich das alles benutzen, damit ich anderen zeigen kann, dass ich besser bin, damit ich andere besser für meine Absichten und Zwecke verwenden kann? Das ist die eine Gruppe, und die anderen Kinder sind noch schlechter dran. Die können das aus irgendwelchen Gründen nicht, andere zum Objekt zu machen. Die machen es mit sich selbst. Die sagen dann: Ich bin zu doof. Ich bin zu blöd, ich kann kein Mathe, ich bin nicht liebenswert, bin nicht schön genug. Das heißt: Indem sie sich dann selbst zum Objekt machen, sind sie auch aus der Nummer raus. Denn jetzt werden sie zum Objekt gemacht, aber nicht sie selbst, sondern sie haben das ja selbst sozusagen angenommen. Das heißt, da sagt der Lehrer: Du kannst kein Mathe. Und dann sagt das Kind: Ja, ich bin zu blöd für Mathe. Und dann ist gar kein Problem mehr. So können die miteinander umgehen. Und so entstehen solche Rollenverhalten, wo hier der Lehrer ist und da der Schüler, und die schwimmen tapfer aneinander vorbei, die begegnen sich nicht mehr. Die sind nur noch in Rollenbeziehungen unterwegs, wo einer den anderen zum Objekt macht. Und das geht dann auch mit Vorgesetzten und Mitarbeitern, und das geht mit Eltern und ihren Kindern, das geht mit Ärzten und ihren Patienten so, und das ist unser gesellschaftliches gegenwärtiges Beziehungsmuster überall. Das hat sich herausgebildet, weil es Zeiten gab, in denen Gesellschaften gezwungen waren, durch Not und Elend, Bedrohung, Krieg und was es alles geben mag, die Individualität völlig zu unterdrücken und als Masse zu reagieren. Da brauchte man strenge Hierarchien, klare Kommandos, und der Einzelne durfte gar nicht als Einzelner, als Subjekt agieren, der musste wie ein Teil dieser Masse hinter den anderen herlaufen. Diese Zeiten haben wir Gott sei Dank überwunden, aber unsere Schulen und unsere Erziehungssysteme sind immer noch so. Und in unseren Arbeitswelten sind wir alle noch so unterwegs. Und in jeder Hausgemeinschaft und überall, wo Menschen zusammenleben, geht es noch nach dem gleichen Schema. Und dann kann ich als Hirnforscher nur sagen: Unter solchen Umständen kann man weder als Kind noch als Erwachsener die in einem angelegten Potenziale entfalten. Das geht nur in einem ko-kreativen Prozess mit einem Gegenüber, dem ich als Subjekt begegne. Alles andere ist keine Bildung, sondern das ist Aneignung von Wissen, wie man das Problem überwindet, dass man immer wieder zum Objekt gemacht wird.

Was man sich heute in wirtschaftlich erfolgreichen und gelingenden Unternehmen wünscht und was man dort dringend und händeringend sucht, sind Mitarbeiter, die hoch engagiert sind, die Lust haben, sich einzubringen, die Freude daran haben, Verantwortung zu übernehmen, die Fähigkeiten besitzen, im Dienstleitungsgewerbe zum Beispiel, die nennt man dann Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit. Sonst kann die Firma zumachen, wenn das nicht ihnen geschenkt wird. Kreativität, das sind alles Dinge, die können Sie von einem Mitarbeiter nicht erzwingen, weder mit Incentives, also Belohnungen, noch mit der Drohung der Entlassung, sondern das sind Dinge, die schenkt Ihnen ein Mitarbeiter nur dann, wenn es diesem Mitarbeiter in Ihrer Firma gut geht. Das heißt, der muss irgendwie das Gefühl haben, dass er in einer Firma ist, wo eine Beziehungskukltur herrscht, wo er als Einzelner gesehen wird, ernst genommen wird. Und das ist genau diese Umwandlung der alten Objektbeziehung in Subjekt-Begegnungs-Beziehung. Das heißt: Führungskräfte, moderne Führungskräfte würden nicht mehr versuchen, den anderen zu sagen, was sie zu tun haben, sondern die würden versuchen, die anderen einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, in ihre eigene Kraft zu kommen. Das ist ein völlig neues Führungsschema, auch ein vollkommen neues Führungsverständnis, weil zu Ende gedacht, bedeutet das, dass die schönste und erfüllendste Aufgabe einer solchen Führungskraft darin bestünde, sich selbst unnötig zu machen. Wenn ich die Mitarbeiter so sehr ermächtigt habe und ihnen so viel Raum gegeben habe, dass die das alleine können, dann weiß ich als traditionelle Führungskraft eigentlich gar nicht mehr, was ich machen soll. Und jetzt merken Sie, wo das Problem steckt. Jetzt ist der Betreffende aber meist mit seiner Rolle so furchtbar identifiziert. Das heißt, er versucht jetzt seine Objektrolle weiter aufrecht zu erhalten, weil er weiß gar nicht, was er sonst machen soll. Er weiß gar nicht, wozu er da ist. Noch schlimmer wird das bei Lehrern. Wir sehen sogar in manchen Schulen, die anders arbeiten, dass es da manche Lehrer gar nicht aushalten, die müssen weg. Dort, wo Schüler alleine aus sich selbst heraus arbeiten, wo die selbst ihren Lernstoff bestimmen, wo die in Arbeitsgruppen sich Dinge erarbeiten, da müssen sie eine völlig andere Funktion als Lehrer übernehmen als in einer Schule, wo sie bestimmen, was dort gelernt wird. Und Lehrer, die das nicht aushalten, die also immer sich selbst definieren als jemand, der alles besser weiß und der die anderen bewertet und der in diesem Rollenverständnis die anderen zu Objekten seines Unterrichts macht, solche Lehrer halten es in dieser neuen Welt überhaupt nicht aus.