Forschergestalten: Boris Zernikow

"Als junger Mensch habe ich dauernd Fußball gespielt, siebenmal in der Woche trainiert. Ich habe aber aufgehört, als ich gemerkt habe: Man muss als Profi anderen Schmerzen zufügen. Das ist was, was ich irgendwie nicht konnte."

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Boris Zernikow
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"Wir haben kaum noch Kinder, die keine Kopfschmerzen kennen. Wir haben immer mehr Kinder mit chronischen Kopfschmerzen", sagt Boris Zernikow. Als Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums und Kinderpalliativzentrums in Datteln versucht er ihnen zu helfen. Schmerz ist oft eine Botschaft, die er und sein Team zu entschlüsseln versuchen.
Der Stifterverband hat Zernikow 2015 mit dem Communicator-Preis ausgezeichnet.

Der YouTube-Kanal des Stifterverbandes:
Die Zukunftsmacher und ihre Visionen für
Bildung und Ausbildung, Forschung und Technik

Produktion: Damian W. Gorczany und Stoyan Radoslavov
Musik: Lubomir Brashnenkov
für den YouTube-Kanal des Stifterverbandes

Transkript des Videos

Als junger Mensch habe ich dauernd Fußball gespielt, siebenmal in der Woche trainiert. Ich habe aber aufgehört, als ich gemerkt habe: Man muss als Profi anderen Schmerzen zufügen. Das ist was, was ich irgendwie nicht konnte. Jetzt bin ich in der Situation, dass ich Menschen mit Schmerzen behandele und ihnen die Schmerzen versuche zu nehmen. Mein Name ist Boris Zernikow. Ich leite das Deutsche Kinderschmerzzentrum und das Kinderpalliativzentrum in Datteln. Wir haben zwei Forschungsgebiete. Das eine ist der chronische Schmerz bei Kindern. Das andere ist die Palliativversorgung. In beiden Forschungsgebieten geht es darum, Kindern, die aktuell erkrankt sind, zu helfen. Das heißt beim chronischen Schmerz: Wir wollen Kinder heilen vom chronischen Schmerz. Und in der Palliativversorgung ist es ganz anders. Dort geht es um die Verringerung von Leid bei den Kindern, die jetzt von einer lebenslimitierenden Erkrankung betroffen sind.

Es ist so, dass ich vor allen Dingen dann mit Kindern Kontakt habe, wenn sie schwer leiden in der Palliativversorgung. Und da entstehen dann Fragen: Wie kann man das Leiden verringern? Es ist ganz, ganz wichtig, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören, zuzufühlen, zuzuriechen, weil sie eine ganz besondere Art haben, ihr Leiden auszudrücken. Und wenn man sie nicht lesen versteht, dann kann man ihnen nicht helfen.Schmerz ist unendlich komplex und vielfältig. Schmerz ist aber auch behandelbar und behandelbar vor allem durch Selbstwirksamkeit. Schmerz ist teilweise Botschaft von anderen Dingen, wo es darum geht, die anderen Dinge zu verstehen. Und das macht das ganze Phänomen Schmerz unglaublich spannend.

Ich weiß gar nicht genau, wie Menschen einen Chefarzt wahrnehmen, wenn ich ehrlich bin. Ich glaube, dass viele Menschen denken: Er macht sehr viel an dem Patienten selber, kann das auch am besten, ist ein sehr autoritärer Mensch. Das entspricht meiner Meinung nach überhaupt nicht der Realität. Ein Psychologe kann tausenden von Dingen, die ich nicht kann. Eine Krankenschwester kann mehr als tausend Dinge, die ich nicht kann. Das heißt: Das ganze Team bringt etwas ein, was ich selber nicht kann. Und die Aufgabe wiederum von mir als Leiter ist, das alles zu einem Ganzen zusammenzuführen und dann dem eine richtige Richtung zu geben.

Das ist total wichtig, dass man chronische Schmerzen nicht so behandelt wie Akutschmerz. Und es gibt diesen tollen Satz mit dem Hammer. Kennt ihr den? If you have a hammer everything looks like a nail. Das muss man sich immer wieder fragen: Ob das Tool, was man in der Hand hat, richtig ist. Ich persönlich lehre total gerne, und ich glaube, dass ich Dinge erst durchdringe, wenn ich sie lehre. Ich bin prgmatischer, nüchterner, realistischer als Studierende. Aber da ist ja gerade der Reiz, dass Studierende phantasievoller sind, ein Stückweit naiver, aber auch viel spontaner und auch Fragen fragen, wo man dann hinterher denkt: Mensch, das ist eine total super Forschungsfrage! Da habe ich noch nie darüber nachgedacht, dass man das auch so sehen kann. Viele Forschungsfragen werden generiert aus der Diskussion mit jungen Menschen.

Für mich ist Forschung Kunst und Kreativität. Mich treibt an, etwas Neues zu gestalten. Das ist vergleichbar mit einem Künstler, der fotografiert, der malt, der Skulpturen macht. Die fragt man ja auch nicht: Was treibt dich eigentlich an, das Bild jetzt zu malen und es so zu malen? Sondern das Umsetzen dessen, was sie in sich fühlen. Und für mich ist Forschung genau so: Ich fühle etwas, und ich möchte das umsetzen.

Wir haben kaum noch Kinder, die keine Kopfschmerzen kennen. Wir haben immer mehr Kinder mit chronischen Kopfschmerzen. Das ist schon Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Stresses, der auf diese Kinder einprasselt. Letztendlich ist die Gemeinschaft der Kinder, die an Schmerzen leiden, Botschafter einer Gesellschaft, die Schmerzen bereitet. Sie fragen: Was in unserer Gesellschaft bereitet so vielen Kindern Kopfzerbrechen?

Das Tolle ist, dass ich in meinem Leben noch erlebe, dass das, was ich erforscht habe, dafür sorgt, dass es anderen Menschen, die ich auch konkret sehe und die ich kenne, besser geht. Das ist faszinierend.