Wissenschaftskommunikation

Wissenschaft darf sich nicht auf Fakten reduzieren

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Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)
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Peter Strohschneider, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hat im Januar in der Süddeutschen Zeitung eine äußerst lesenswerte Analyse der Herausforderungen von Wissenschaft im wissenschaftsskeptischen Klima geliefert. Er macht deutlich, dass die aktuellen Entwicklungen „die liberale Gesellschaft selbst, ihren gelassenen Pluralismus und ihre rationale Streitkultur“ gefährden, und fragt, wie darauf angemessen reagiert werden könne, „wenn das Gebildetsein und die wissenschaftliche Expertise selbst verächtlich sein sollten“. Sein Fazit: „Einfach wie bisher mehr Expertise und mehr Geld für noch mehr Expertise fordern? Das wird nicht helfen. [...] Wissenschaft braucht gesellschaftliches Vertrauen.“

Strohschneider sensibilisiert dafür, dass die Wissenschaft selber entscheidend dazu beigetragen habe, dieses Vertrauen in den vergangenen Jahren zu gefährden; unter anderem dadurch, dass sie sich zu wenig mit den Machtkonzentrationen auseinandergesetzt hat, die mit moderner wissenschaftlicher Erkenntnis ermöglicht wurden – sei es im Bereich der Digitalisierung, der synthetischen Biologie oder des Genome Editings, aber auch der ökonomischen Analyse. „Wir erklären Wissen zum wichtigsten Faktor ökonomischer Prosperität, uns Wissenschaftler aber als unzuständig für die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus.“ Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Moderne Wissenschaft lebt von der Fragmentierung. Durch den Detailblick gewinnt sie ihre Tiefe. Um den zu erreichen, muss sie vieles ausblenden: Der Rust-Belt-Arbeiter spürt durchaus zu Recht, dass die bestehende dominante Wissenschaft keine Antworten auf seine Probleme gibt.

So richtig und brillant die Analyse ist, so enttäuschend fallen die Handlungsempfehlungen von Peter Strohschneider aus: Sie laufen lediglich auf „einschneidende Folgerungen für die Wissenschaftskommunikation und dafür, wie Wissenschaftler für die Wissenschaften werben“ hinaus. Es reiche nicht, „wissenschaftliches Wissen einfach bereitzustellen.“ Es müsse auch stets vermittelt werden, mit welchen Methoden es zustande gekommen ist.

Doch die aktuelle Herausforderung für die Wissenschaft ist mehr als eine Kommunikationsherausforderung. Es geht um ein erweitertes Wissenschaftsverständnis in modernen Gesellschaften.

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Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)
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Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Das Wesen von Wissenschaft: Wahrheitssuche oder begründete Handlungsorientierung?

Wer Wissenschaft ausschließlich für Fakten zuständig erklärt, folgt einem verkürzten naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsverständnis. Dieses geht davon aus, dass es eine außerhalb von uns liegende objektive Wirklichkeit gibt, deren Bausteine und deren Funktionieren mit wissenschaftlichen Methoden immer besser verstanden werden kann. Das ist aber nur ein Bereich von Wissenschaft.

Der Versuch, soziale Realität in all ihrer technologischen, ökonomischen und kulturellen Dynamik analytisch zu erschließen, gerät an inhärente Grenzen: Bei Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften haben wir es mit einer Wissenschaft zu tun, bei der die Theorien über soziales und kulturelles Handeln selber auf die Gesellschaften zurückwirken. Das Bild, das wir uns von Ökonomie machen, prägt unsere ökonomische Wirklichkeit. Die im wissenschaftlichen Diskurs gewonnenen Begriffe von gesellschaftlicher Veränderung wirken auf Gesellschaften zurück. Im aktuell aufgeheizten politischen Klima gilt es, Stimmungen und Affekte zu analysieren und selber präzise Begriffe zu schaffen, die Projektionsqualität (Casale) besitzen, um existierende Stimmungen aufzugreifen und zu wenden. Gerade Interpretations- und Begriffsinterventionen von (öffentlichen) Intellektuellen wirken nicht nur auf einer rationalen Ebene.

„Wissenschaft ist hier in einer erweiterten Rolle gefragt: Sie muss sich mit der Kraft guter Argumente in gesellschaftliche Prozesse einbringen. “

Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)
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Uwe Schneidewind

Es geht daher bei einer umfassend verstandenen Wissenschaft nicht nur um eine einfache Abbildung von Wirklichkeit, sondern um eine wissenschaftlich begründete Handlungsorientierung. Eine solche Handlungsorientierung ist eine vieldimensionale Herausforderung. Sie muss sich mit Wertefragen, mit der Begründung wünschenswerter Zukünfte, mit der Rückwirkung wissenschaftlicher Erkenntnis auf die gesellschaftliche Praxis sowie mit der Einbettung und der Rolle von Wissenschaft in gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzen. All dies kann sie mit der Kraft wissenschaftlich begründeter Argumente.

Wissenschaft ist hier in einer erweiterten Rolle gefragt: Sie muss sich mit der Kraft guter Argumente in gesellschaftliche Prozesse einbringen. Sie muss begründete Orientierung in komplexen Situationen liefern und darf dabei Werte- und Machtfragen sowie die affektiven Dimensionen dieser gesellschaftlichen Realität nicht ausblenden. Dahinter steckt letztlich die Idee eines neuen und erweiterten „Vertrages zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).

Die damit verbundenen Konsequenzen reichen weit über eine veränderte Wissenschaftskommunikation hinaus: Sie erfordern,

  1.  dass Wissenschaftler ihre Einbettung in die Gesellschaft verstehen und aktiv annehmen,
  2. dass sie gesellschaftliche Probleme und deren Rahmung ernst nehmen,
  3. dass sie mit der Macht und Wertedimension jeder Wissenschaft aktiv umgehen,
  4. dass sie der Vielfalt der Wissensformen auf Augenhöhe und mit Respekt begegnen und 
  5. dass sie sich als öffentliche Intellektuelle in gesellschaftliche Diskurse einbringen.

Wissenschaft kann und muss eine zentrale Kraft für eine zukunftsfähige und aufgeklärte Gesellschaftsentwicklung bleiben. Ihr wird das aber nur gelingen, wenn sie sich nicht selbst beschränkt, sondern sich in einem erweiterten Selbstverständnis der Gesellschaft öffnet.

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