Lernorte

Pädagogik der Bevormundung

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Foto: istock/skynesher
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Digitales Tagebuch des Dr. D.: Elfter Eintrag, Januar 2020

Unlängst publizierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zwei sehr konträre Gastbeiträge zum Thema Digitalisierung von Bildung. Der Beitrag „Der bildungsferne Campus“ malte ein überaus dystopisches Bild. Als anschauliches Beispiel wählte der Autor eine in den USA eingesetzte Lernsoftware, mit der allein am Laptop (zum Teil mit hoher Lautstärke) gearbeitet wird. Die eingesetzte Technologie isoliert die Lernenden voneinander, indem sie den Lernverlauf personalisiert, das heißt individuell zugeschnittene Tipps für die nächsten Schritte gibt. Die anfallenden Daten werden massenhaft gesammelt und vor dem Hintergrund kommerzieller Interessen weiterverarbeitet. Dieser Komplex der „Data-driven Education“ ist in der Tat höchst problematisch und wird auch in der Fachcommunity vielfach kritisiert (siehe dazu die Zusammenfassung eines Anfang des Jahres 2019 erschienenen Themenhefts „Learning, Media and Technology“).

Diese berechtigten Kritiken scheinen den Autor weniger zu interessieren, denn die Datafizierung von Bildung wird zu einem K.-o.-Stoß für die Digitalisierung insgesamt verwendet. Dazu wird schnell die Ebene gewechselt, denn nun geht es um den Digitalpakt und die damit beschlossenen finanziellen Investitionen, die unter anderem zur Anschaffung von mobilen Endgeräten für den Unterricht verwendet werden sollen. Es sei nämlich keineswegs belegt, dass man mit digitalen Medien besser lernt als mit analogen Medien. Tatsächlich würden Tablets und Co. sogar zu schlechteren Lernleistungen führen. Was der Autor hier (bewusst oder unbewusst) verschweigt, ist, dass wir seit mehr als 30 Jahren keine einheitlichen Befunde aus der Forschung haben. Das heißt, es gibt weder generell positive noch negative Effekte von Medien auf das Lernen. Man spricht deswegen von einem „No-Significant-Difference-Phänomen“. In dieser Datenbank werden seit 2004 diesbezüglich Studien gesammelt.

Somit ist die Argumentation nicht empirisch gestützt, sondern folgt einer paternalistischen Ideologie. Es geht darum, möglichst genau vorzuschreiben, wie und ab welchem Alter Menschen mit dem Internet und digitalen Medien in Berührung kommen sollen. Das wird mit dem Primat des Pädagogischen begründet. Aber was für eine Pädagogik ist das, die so vehement analoge Lernformen gegen digital gestützte Lernaktivitäten ausspielt? Es ist eine Pädagogik der Bevormundung, die nicht erkennen will oder kann, dass mit der Digitalisierung herausragende Möglichkeiten zur Förderung von Autonomie und Emanzipation verbunden sind. Auch ist es eine lebensferne Pädagogik, die völlig ignoriert, wie sich junge Menschen heute im digitalen Raum bewegen und verständigen. Schulen und Hochschulen verfehlen somit eine ihrer zentralen Berechtigungen, wenn sie sich einer solchen Pädagogik bemächtigen. Ein solcher technologiefeindlicher Campus wäre, wie es der Artikel suggerieren möchte, tatsächlich in hohem Maße bildungsfern.

Es dauert dann auch nicht lange, bis nach der Veröffentlichung eine Replik erschien, die „Wege aus der digitalen Steinzeit“ beschreiten möchte. Auch hier lässt die Überschrift eine ideologisch aufgeladene Position erahnen. Diese geht nämlich davon aus, dass mit der Digitalisierung quasi natürlich fast nur positive Entwicklungen verbunden sind. Abgeleitet aus einem technikdeterministischen Verständnis wird sogar eine „Beweislastumkehr“ der Argumentation zugrunde gelegt. Die Antidigitalisierer hätten nachzuweisen, dass ihre traditionsreichen Methoden wie Vorlesung und Seminar immer noch den digitalen Lehrformaten überlegen sind. Es wäre angesichts der ungeheuren Vielfalt an Lernressourcen im Internet nicht mehr zeitgemäß, den Lernenden Lernstoff und Lerntempo vorzudiktieren. 

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Illustration: Irene Sackmann
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Bildung trotz(t) Digitalität

Markus Deimann beschäftigt sich seit 2001 mit Bildung und Digitalisierung. Er arbeitete an verschiedenen Hochschulen und promovierte und habilitierte im Fach Bildungswissenschaft. Er provoziert gerne mit Texten, Vorträgen oder im Podcast „Feierabendbier Open Education“. Es geht ihm um eine sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Technik, jenseits von Hype und Untergangsphantasien. Seit 2017 gehört er zum Kernteam des Netzwerks für die Hochschullehre im Hochschulforum Digitalisierung (HFD). Auf MERTON schreibt er als Dr. D. eine regelmäßige Kolumne mit dem vieldeutigen Titel Bildung trotz(t) Digitalität. 

Markus Deimann auf Twitter.

„Es bleibt dabei, dass die Lehrperson im Vorfeld festlegt, wann Inhalte zu vermitteln und wann zu vertiefen sind. Auch hier finden wir also deutliche Spuren einer bevormundenden Pädagogik. “

Markus Deimann
Markus Deimann (Foto:privat)
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Markus Deimann

Stattdessen lässt sich die Vorlesung nun auf den Kopf stellen: War man bisher gezwungen, gemeinsam im Hörsaal passiv zuzuhören, so wird nun selbstständig und eigenverantwortlich der Stoff verarbeitet. In der Vorlesungsstunde wird stattdessen gemeinsam und maximal interaktiv diskutiert. Die Rolle des Dozenten wandelt sich dabei zu einem Lernbegleiter, der von der Bühne tritt und als Coach hilft, Fragen zu beantworten. Ganz so progressiv ist dieser Ansatz jedoch nicht, denn die Vorlesung wird aufgezeichnet und hier ist der Dozent wieder in der alten Rolle des Vorlesenden. Die Lernenden haben nun die Möglichkeit, die Videos so oft sie mögen anzuschauen. Das hierarchische Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden wird also nicht aufgelöst. Es bleibt dabei, dass die Lehrperson im Vorfeld festlegt, wann Inhalte zu vermitteln und wann zu vertiefen sind. Auch hier finden wir also deutliche Spuren einer bevormundenden Pädagogik.

Während es im ersten FAZ-Artikel um die Abwehr schädlicher digitaler Einflüsse geht, will der zweite Beitrag Digitalisierung als technokratisches Projekt angehen. Das kommt etwa durch die Begriffe wie „Anreicherung“ oder „Integration“ zum Ausdruck, womit unterschiedliche Medienanteile in der Lehre gemeint sind. Die PowerPoint-Präsentation in der Vorlesung wäre eine Anreicherung, da diese das bestehende didaktische Format unterstützt und verstärkt. Wenn nun Lernende sich das Wissen selbstständig im Netz aneignen oder vertiefen, wäre das ein Beispiel für Integration. Es sind somit die Sachzwänge (die Verfügbarkeit an digitalen Medien und Technologien), mit denen die Pädagogik begründet wird. Auch suggeriert die schematische Aufteilung des Lernens in Phasen der Wissensvermittlung und -vertiefung ein mechanistisches Bild. Es vernachlässigt das bereits vorhandene Wissen als Variable, das die Vermittlungsphase abkürzen kann. Auch scheinen individuelle Interessen keine große Rolle zu spielen, stattdessen wird davon ausgegangen, dass alle mehr oder weniger gleich schnell lernen.

Mitbestimmung der Lernenden

Wie auch im ersten Beitrag ist eine wirkliche Mitbestimmung der Lernenden an der Auswahl der Lehrformate, Methoden oder an dem Einsatz digitaler Werkzeuge nicht vorgesehen. Genau das ist jedoch die Aufgabe einer Pädagogik, die nicht bevormundet, sondern emanzipiert. Eine solche Pädagogik ist aktiv gestaltend bei der Digitalisierung und verkriecht sich nicht in das Schneckenhaus der Tradition. Wobei ich mit Tradition nicht didaktische Formate wie die Vorlesung meine, die andere so gern als nicht mehr zeitgemäßen Ballast loswerden wollen. Vielmehr beziehe ich mich bei Tradition auf die Organisation von Bildung, zum Beispiel in der Form des Einsatzes von bestimmten Medien oder technologisch unterstützten Vermittlungsformen. Während die Vorlesung auf zeitlosen Prinzipien beruht (die Aufbereitung einer Fülle von Informationen, die Einbettung in einen bestimmten Diskurs etc.), so sind heute Overhead-Projektoren eher hinderlich bei der Wissensverarbeitung. Eine nicht bevormundende Pädagogik lässt sich nicht von der Technik vorschreiben, wie Lehren und Lernen abzulaufen haben, sondern nutzt sie, um Kommunikation, Vernetzung und Zusammenarbeit zu fördern.

Entgegen den oftmals eher sloganhaften Formulierungen stellt diese Pädagogik den Lernenden in den Mittelpunkt mit weiter reichenden Konsequenzen. Es reicht nämlich nicht, nur immer wieder zu behaupten, dass der Mensch bei der Digitalisierung im Zentrum stehe und dass ihn die Technik zu unterstützen habe. Vielmehr bedarf es auch einer Reihe von Freiheiten, die an den Lernenden übertragen werden. Das betrifft zum Beispiel die Beteiligung an der Erstellung von Lerninhalten, die typischerweise in der Hoheit der Dozenten liegen. Bereits in der Reformpädagogik Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Überlegungen dazu. Mit der Verbreitung webbasierter Technologien (zum Beispiel H5P) lassen sich diese Bestrebungen weiter fortführen. So werden nicht nur Inhalte erarbeitet oder vertieft, sondern auch wertvolle Erfahrungen im Hinblick auf Medien- beziehungsweise Digitalkompetenz gesammelt.

„Eine nicht bevormundende Pädagogik lässt sich nicht von der Technik vorschreiben, wie Lehren und Lernen abzulaufen haben, sondern nutzt sie, um Kommunikation, Vernetzung und Zusammenarbeit zu fördern.“

Markus Deimann
Markus Deimann (Foto:privat)
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Markus Deimann

Eine weitere Freiheit, die übertragen werden kann, betrifft die Gestaltung des Lernens. Hier ist mehr möglich, als die Vermittlung und die Einübung von Wissen umzudrehen. Stattdessen wären ein digital gestützter Projektunterricht oder ein Seminar denkbar, bei dem zwar ein leitendes Thema vorgegeben wird, es dann aber an den Lernenden liegt, welche Aspekte davon sie näher beleuchten wollen. Technologien helfen beim Vernetzen, Kommunizieren und Zusammenarbeiten. Nicht jeder muss dabei eine vorab festgelegte Lernaktivität durchführen, sondern kann diese selbst definieren. Aber auch nicht jeder muss hochgradig aktiv und engagiert sein, sondern kann auch nur bei anderen zuschauen. Mit der Vielfalt an digitalen Technologien und sozialen Kontexten wäre somit eine größere Bandbreite an pädagogisch akzeptierten Tätigkeiten möglich – mehr als Wissensvermittlung und Vertiefung.

Wir sollten anfangen, die Pädagogik der Bevormundung zu überwinden.

 

 

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