Hartmut Rosa: Wider den ewigen Steigerungszwang

Als ich meinen ersten Computer angeschafft habe, habe ich dem noch einen Namen gegeben, weil ich dachte: Das Ding bleibt jetzt bei mir. Mehr brauche ich nicht! Und heute weiß man: Egal, was ich mir anschaffe, morgen ist es veraltet.

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Hartmut Rosa: Wider den ewigen Steigerungszwang
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Immer mehr, immer besser, immer Neues? Menschen wollen irgendwann einfach mal ankommen, meint der Soziologe Hartmut Rosa von der Universität Jena. Was vielleicht wie die Sehnsucht nach Mittelmaß aussieht, ist der tief empfundene Wunsch vieler, nicht pausenlos das eigene Leben optimieren zu müssen. Auch in einer Welt, die technisch immer neue Möglichkeiten bietet, kommt es nämlich auf etwas ganz anderes an.

Autorin: Corina Niebuhr
Produktion: Webclip Medien Berlin
für den YouTube-Kanal des Stifterverbandes

Transkript des Videos

Georg Simmel, der Soziologe, hat schon festgestellt - ich glaube, völlig zu Recht, dass wir eigentlich nur da glücklich sind, wo wir es mit Endzwecken zu tun haben. Also, wir haben hier ein Ziel, zum Beispiel: Ich will es warm haben, und ich mache ein Feuer, und es wird warm. Das ist etwas, was mir Befriedigung gibt.

Aber heute sind diese Endzwecke in ganz weite Ferne gerückt, so dass wir es permanent mit Zwischenzwecken zu tun haben. In meiner eigenen Diktion will ich sagen, dass wir permanent mit dem Ansammeln von Ressourcen beschäftigt sind. Also, wir wollen vielleicht Geld verdienen. Häufig geht es aber nicht ums Geld, sondern um sowas wie Bildung. Wir sagen: Ich gehe dahin, um was zu lernen. Oder selbst wenn ich Shakespeare lese und Wagner höre, ist es kulturelles Kapital, das ich dort ansammele. Und Beziehungskapital: Ich gehe auf dieses Fest oder auf jene Party, weil mir das Beziehungen, Connections schafft. Das sind alles Zwischenzwecke, Ressourcen, die ich brauche. Ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital, um in gewisser Weise auch meine Wettbewerbsposition zu verbessern. Und das Erstaunliche ist jetzt, dass da immer mehr auf Körperkapital zielt. Also, wir tun Dinge, damit wir fit bleiben, damit wir attraktiv bleiben, damit wir kreativ bleiben. Und es ist dann ganz schwer, sich von diesem Gedanken zu lösen bei fast allem, was Sie tun. Wenn Sie eine Bildungsreise machen, sammeln Sie kulturelles Kapital. Wenn Sie einen Yoga-Kurs machen, dann sammeln Sie Körperkapital, damit Sie besser entschleunigen können oder besse entspannen können. Und wenn Sie auf eine Party gehen, sammeln Sie soziales Kapital. Genau genommen, gibt es fast nicht mehr diese Freiräume des zweckfreien Spiels. Ich meine, da kann man auch gut und gerne Schiller ins Spiel bringen, der sagt: Der Mensch ist eigentlich nur da ganz Mensch und im Bereich seiner Möglichkeiten, wo er spielt. Wo er ganz hingegeben ist an eine Sache jenseits des Gedankens, dass er dabei auch etwas akkumuliert. Und wir sind eine Gesellschaft der Akkumulation geworden, und das hängt natürlich ganz stark an kapitalistischer Verwertungsimperativen.

Was es gibt und was vielleicht so aussieht wie eine Sehnsucht nach Mittelmaß, ist eine Sehnsucht danach, sowas wie eine Nische zu erreichen oder ein Plateau, auf dem man so sein kann wie man ist, auf dem man sozusagen nicht permanent immer weiter steigen muss. Ich glaube, da gibt es eine große Sehnsucht, weil in fast allen Bereichen des Lebens wir nie sagen können: So, jetzt genügt es mir. Klassisches Beispiel dafür wären Computer oder Handys oder so. Als ich meinen ersten Computer mir angeschafft habe, habe ich dem noch einen Namen gegeben, weil ich dachte: Das Ding bleibt jetzt bei mir. Mehr brauche ich nicht! Und heute weiß man irgendwie: Egal, was ich mir anschaffe, morgen ist es veraltet. Wenn Sie sich einen neuen Computer kaufen, kommt nach drei Tagen die Nachricht: Sie müssen schon wieder updaten. Und es gilt eigentlich für alle Lebensbereiche. Man kann nicht sagen: Dieser Job reicht mir jetzt oder dieses Einkommen reicht mir jetzt oder diese Geldanlage oder was immer es sein mag, sondern wenn Sie sich nicht verbessern, neu orientieren, flexibilisieren, dann sinken Sie schon wieder zurück. Und deshalb, glaube ich, gibt es schon eine große Sehnsucht danach, sich wenigstens ein paar Bereiche zu schaffen, in denen man sagen kann: Das genügt mir jetzt erstmal, dieser Job oder dieses Einkommen oder diese Ausstattung. Aber die neoliberalen Reformen der letzten Jahre haben es im Prinzip verunmöglicht, solche Nischen zu erreichen. Damit galt für alle in fast allen Lebensbereichen der Webersche Satz für Unternehmer: Wenn Sie nicht hinaufsteigen, also sich steigern, verbessern, flexibilisieren, innovieren, beschleunigen, dann sinken Sie zurück, dann fallen Sie zurück relativ gesehen zu anderen.

Es ist ganz wichtig zu sehen, dass man nicht einfach nur entschleunigen kann oder solche Oasen für alle schaffen, während gleichzeitig das System weiterhin ein Steigerungssystem ist. Deshalb wehre ich mich auch ein bisschen gegen die Idee, dass ich irgendwie Entschleunigungs-Guru sei oder überhaupt Entschleunigung predige, weil ich sagen würde: Wir können nicht nur Dinge verlangsamen, wenn wir gleichzeitig die anderen gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedingungen gleichlassen. Also, die moderne kapitalistische Gesellschaften, so wie sie heute sind, können sich nicht anders halten als durch Steigerungen. Solange wir da nicht sozusagen da rangehen und nicht ehrlich über Systemreformen nachdenken, bleibt alles andere leeres Wunschdenken. Natürlich gibt es eine große Sehnsucht der Menschen nach Langsamkeit, nach Resonanz und nach anderen Dingen, aber wir können die nicht realisieren, wenn wir unter Steigerungszwängen stehen. Im Prinzip stelle ich mir das so ähnlich vor wie bei einer Krankheit. Zum Beispiel Diabetes, da kann ich zwar Coping-Strategien entwickeln, also Weisen des Umgangs lernen, so kann man kleine Resonanzzonen oder Entschleunigungsoasen einrichten. Aber das beseitigt nicht das Systemproblem als Ganzes. Deshalb denke ich: Ja, es gibt beides. Es gibt einen großen gesellschaftlichen Bedarf, darüber nachzudenken, wie wir eine Systemtransformation erreichen können, die es uns ermöglicht, den erbarmungslosen Steigerungszwängen als reinem Selbstzweck zu entgehen. Gleichzeitig können wir aber natürlich auch innerhalb des bestehenden Systems darüber nachdenken, welche Möglichkeiten und Spielräume dafür bestehen, Resonanzräume zu schaffen.

Unsere Welt ist in der Tat technikgetrieben. Die meisten Veränderungen sind technischer Art. Und ganz interessant ist: Wenn man Jugendliche anguckt, wenn man die Frage stellt, wie wir in 20 Jahre leben wollen, dann suchen sie nicht nach politischen Möglichkeiten, Welt zu gestalten, einzurichten, sondern sie sind fasziniert von technischen Möglichkeiten. Und was genau ist das Versprechen der Technik? Meiner Ansicht nach liegt das große Versprechen der Technik darin, Welt in Reichweite zu bringen. Also, mit den ganzen technischen Möglichkeiten erschließen wir uns Welt oder Welt-Räume, kann man sagen. Mit dem Auto kann ich schon in die nächstgelegene Stadt oder abends ins Kino oder irgendwohin fahren, was ich vorher nicht konnte. Mit dem Flugzeug bringe ich sogar London, Paris oder New York in Reichweite. Mit der Rakete bringe ich im Prinzip den Mond in Reichweite. Und wenn ich ein Smartphone in der Tasche habe, dann habe ich alle meine Freunde in Reichweite. Ich habe das gesamte enzyklopädische Wissen Wikipedias in Reichweite und die Wetterdaten aus der ganzen Welt usw. Also, Welt in Reichweite bringen, ist das große Versprechen, die Verheißung von Technik, und da hängt unsere Sehnsucht, unser Begehren geradezu dran. Und ich glaube, dass wir Welt deshalb in Reichweite bringen wollen, weil wir den richtigen Weltausschnitt finden wollen. Diese Resonanzwurzel ist, glaube ich, sogar an der Wurzel unserer Technikbegeisterung. Dass ich den Ort finde oder das Musikstück oder das Bild oder was immer es sein mag oder die Freunde, die Menschen, die mit mir in einer wirklichen Beziehung treten, die ich eine Resonanzbeziehung nenne, so dass man sich in einen Modus wechselseitiger Anverwandlung bringt. Und tatsächlich ist es, glaube ich, so, das zuviel Technik diese Resonanzbeziehung untergräbt. Also, mein Lieblingsbespiel dafür ist Musik. Nehmen wir mal Musik. Ganz viele Menschen kennen das noch, dass sie nach den richtigen Schallplatten oder CDs fahnden, die sie dann nach Hause tragen vielleicht uns ins Regal stellen in der Hoffnung, dass diese Symphonie oder diese Rock-CD oder was immer es sein mag, dass das etwas ist, was sie wirklich berührt und bewegt. Und wenn Sie zum Beispiel so einen Dienst nehmen wir Spotify: Da brauchen Sie nicht mehr nach irgendwas Einzelnem zu suchen, weil sie zahlen neun Euro oder so im Monat und dann haben Sie zwei Millionen Titel in Verfügung. Das ist Maximum an Weltreichweite, das Sie erreichen können in musikalischer Hinsicht. Aber die Tatsache, dass Sie plötzlich zwei Millionen Titel völlig beliebig in Reichweite haben, verbessert nicht die Beziehung, die Sie dazu haben. Ich würde sagen: Das untergräbt sogar die Wahrscheinlichkeit, dass sich da sowas wie Resonanzbeziehung entwickelt. Warum ist das so? Weil die Anverwandlung eines Musikstücks, sei das eine Wagner-Oper oder eine Brahms-Symphonie oder ein Album von Pink Floyd, zeitintensiv ist. Man muss sich darauf einlassen. Man muss das mehrmals hören. Genau genommen, der richtige Hörgenuss stellt sich ja erst da ein, wo ich das auch schon antizipierend mithöre. Das heißt, die Resonanzachse bildet sich erst mit einer gewissen Zeitdauer heraus. Und wenn ich zwei Millionen Titel jederzeit zur Verfügung habe, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich einem davon so lange Zeitdauer einräume, relativ gering, so dass ich sagen würde: Ja, die Durchtechnisierung der Welt birgt mindestens die Gefahr der Untergrabung von Resonanzpotenzialen.

Es gibt viele Möglichkeiten, sich auszumalen, wann und wie das schiefgehen kann. Das Erstaunlich ist ja, dass uns ganz viel dazu einfällt, wie unser gesellschaftliches System, auch diese Steigerungslogik in der Apokalypse enden kann, entweder in der nuklearen Apokalypse durch explodierende Atomkraftwerke oder gar einen Atomkrieg oder durch ökolgische Katastrophen, Treibhauseffekt und Klimawandel und andere Dinge oder in soziale Entladungen. Ich frage mich tatsächlich, ob man nicht diese, was wir insbesondere im Nahen Osten beobachten können, der IS oder Al-Quida, ob die nicht ein Teil ihrer Attraktivität, die sie erstaunlicherweise sogar für Jugendliche im Westen haben, sogar für hochgebildete teilweise, ob die Attraktivität nicht daraus resultiert, dass die tatsächlich von einem System träumen, das komplett jenseits von jeder Dynamik und Steigerung liegt. Weil der IS hat ja wirklich das Ziel, Gesellschaft komplett stillzustellen, ja einzufrieren in einem bestimmten historischen Zustand. Und das Verblüffende ist: Wie kann denn das tatsächlich bei uns im Westen auf irgendeine Form von Resonanz stoßen? Und meine Idee ist, dass da eine Art von politischer Entladung sich beobachten lässt, die aus Widerstand und tiefer Frustration mit diesen blindlaufenden Steigerungszwängen resultiert.

Wir suchen natürlich nicht nach einem Gesellschaftsmodell, wie es die Taliban oder der IS vorschlagen, nämlich im Sinne einer kompletten Stillstellung von Gesellschaft, sondern eine Postwachstumsgesellschaft, wie wir sie nennen, muss oder sollte zum einen dem Projekt, dem Versprechen der Moderne in normativer Hinsicht treu bleiben, also pluralistisch sein, liberal und demokratisch selbstbestimmt. Anders lässt sich das kaum vorstellen. Und Postwachstum heißt auch nicht, dass diese Gesellschaften nie wachsen, beschleunigen oder innovieren sollte, weil ich meine, das wäre ein selbstmörderisches Programm, das sich historisch nicht halten lässt. Aber die Idee ist, dass die Gesellschaft zwar wachstumsfähig ist, wenn es darum geht, Knappheit zu überwinden, vielleicht in einigen Bereichen in Afrika, dass die innovationsfähig ist, wenn es zum Beispiel gilt, eine neue Krankheit wie Ebola zu überwinden, und natürlich auch beschleunigungsfähig, wenn es zum Beispiel darum geht, grüne Technologien einzuführen. Dass die das aber nicht als Selbstzweck muss, also dass sie selbst da wachsen und beschleunigen und sich steigern muss, von mir aus im Bäckereihandwerk, wo es daran überhaupt keinen Bedarf gibt. Und eine solche Transformation einer Gesellschaft in eine Postwachstumsgesellschaft, die wachsen kann, aber nicht muss, bedarf einer Art konzertierter Aktion, das heißt einer Änderung in mehreren Lebensbereichen. Wir brauchen dafür eine ökonomische Reform, weil der gegenwärtige Kapitalismus diese Steigerungslogik eingebaut hat. Wirtschaftliche Tätigkeit kommt nur in Gang, Kapital wird nur bewegt, wenn es das Versprechen auf mehr Kapital, also auf Steigerung gibt. Und deshalb braucht eine Postwachstumsgesellschaft eine andere Form von Ökonomie, die wir versuchen zu skizzieren in dem Programm einer Wirtschaftsdemokratie, die zwar Räume für Wettbewerb und Markt auch ausweist, die aber nicht sozusagen sich komplett selbst überlässt und zum Subjekt der Geschichte werden lässt. Wir brauchen eine Reform des Sozialstaates, weil der gegenwärtige Sozialstaat nur Zuwächse verteilen kann im Prinzip. Grundeinkommen wäre dafür eine grundlegende und ganz wichtige Idee als ein Element, vielleicht auch etwas wie eine Grundzeit, wirklich freigestellte und gesellschaftlich garantierte Zeit für jeden. Und ich glaube, wir brauchen auch eine Veränderung unseres Maßstabs an Lebensqualität, übrigens auch an politischer Qualität, weil wir nämlich sowohl individuell als auch poltisch Wohlergehen, Wohlstand oder überhaupt Qualität immer an Zuwächsen messen. Das gilt für unser eigenes Leben. Wir fragen uns eigentlich "Geht es mir gut?", indem wir einen Blick werfen auf unser kulturelles, ökonomisches, soziales und Körperkapital, und zum Beispiel im Bildungswesen sehen Sie in der Regel auch diese Steigerungslogik. An Hochschulen zum Beispiel heißt es, es war ein gutes Jahr, wenn wir mehr Studierende haben, mehr Doktoranden, mehr Drittmittel, mehr internationale Publikationen usw. Und wir müssen weg von dieser Steigerungsorientierung hin zu einer Resonanzorientierung. Das ist mein eigenes Programm, an dem ich arbeite, das sagt: Leben wird nicht dadurch besser, dass wir mehr Welt in Reichweite bringen, sondern dann, wenn wir die Beziehung zu der Welt, die wir zur Verfügung haben, ändern, nämlich wenn wir eine Art Resonanzbeziehung zur Welt herstellen, die es uns erlaubt, uns berühren zu lassen von Menschen, von Dingen, von Kunst, vielleicht auch von Politik, und die es uns umgekehrt auch ermöglicht, Welt zu erreichen, Politik zu erreichen, Menschen zu erreichen, Dinge zu bewegen.